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Körperlos, aber vereint

Die STAY!-Stipendiatin und Juristin Rike Sinder erforscht, wie sich das Versammlungsrecht in Deutschland durch virtuelle Räume verändert

Freiburg, 28.02.2020

Körperlos, aber vereint

Foto: .shock/stock.adobe.com

Frauen studieren, promovieren – und sind trotzdem viel zu selten in Spitzenpositionen an der Universität vertreten. Bei vielen geht es nach der Dissertation nicht weiter. Mit den Brückenstipendien „STAY!“ und „Come and STAY!“ will die Albert-Ludwigs-Universität junge Akademikerinnen bei ihrem Weg in die Forschung unterstützen. Eine von ihnen ist Dr. Rike Sinder. Die Freiburger Rechtswissenschaftlerin ist STAY!-Stipendiatin und arbeitet aktuell zum Thema „virtuelle Versammlungsräume“.

Virtuelle Versammlung: Über das Internet können Menschen zum Beispiel an Demonstrationen teilnehmen, ohne am Veranstaltungsort physisch anwesend zu sein.
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Die Digitalisierung verändert das Miteinander – auch, weil sie neue Räume schafft. Virtuelle Räume, in denen sich Menschen austauschen, organisieren und auch protestieren können. Der „Arabische Frühling“ etwa, die Revolution in Ägypten, erwachte in einer Facebook-Gruppe. Und auch für die junge Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ spielen Social-Media-Plattformen eine zentrale Rolle, die über die Verbreitung von Versammlungsaufrufen weit hinausgeht. Mitunter entstehen Mischformen von Zusammenkünften: Versammlungen, an denen nicht nur körperlich anwesende Personen aktiv teilnehmen können, sondern auch solche, die sich über das Internet dazugesellen.

Eine radikalere Form des Protests im Internet fanden vor mehr als 20 Jahren Aktivistinnen und Aktivisten mit so genannten Distributed-Denial-of-Service-Angriffen. Hierbei wird eine Internetseite mit Tausenden von Aufrufen bombardiert – und das über verschiedene Rechnersysteme. Der erste in Deutschland prominent behandelte Fall habe im Jahr 2001 die Lufthansa AG betroffen, erzählt Sinder. „Die Demonstrantinnen und Demonstranten wollten mit der von ihnen ausgelösten Zugriffsblockade erreichen, dass sich das Unternehmen nicht mehr an Abschiebungen beteiligt.“ Die Aktivisten hätten sogar versucht, ihre Internetdemo beim zuständigen Ordnungsamt anzumelden. Allerdings ohne Erfolg.

Lesarten in Konkurrenz

Diese Phänomene stellen „tradierte staatsrechtliche und demokratietheoretische Konzepte“ infrage, sagt Sinder. Der Grund: Das deutsche Recht kennt, zumindest bislang, keine nicht-körperlichen Versammlungen – die Onlineversammlung ist aber immer körperlos. Ohne Körper jedoch kommt eine „Versammlung“ – nach tradierter Lesart – nicht in den Genuss des Schutzes von Artikel 8 des Grundgesetzes, der die Versammlungsfreiheit garantiert. Für Sinder ergeben sich aus der Digitalisierung des Versammlungsgeschehens viele Fragen: Wie viel Körperlichkeit braucht eine Versammlung? Welche Handlungen lassen sich nach Artikel 8 überhaupt als eine Versammlung beschreiben? Und welche nicht?

Die Juristin nimmt das Thema anders auseinander als es eine Strafrechtlerin oder ein Strafrechtler tun würde. „Mich interessiert das ideengeschichtliche Konzept dahinter. Ich will wissen, wo das Recht auf Versammlungsfreiheit im Grundgesetz herkommt und welchen Zweck es erfüllt.“ Erste Anhaltspunkte hat sie bereits aufgespürt: Verfassungshistorisch konkurrieren zwei verschiedene Ansätze miteinander: Die Versammlungsfreiheit bewege sich zwischen Meinungsfreiheit und Petitionsrecht, zwischen französischer und anglo-amerikanischer Tradition, so die Wissenschaftlerin.

Stipendium für zwölf Monate

Sinder hat den Rahmen ihres Forschungsvorhabens bereits sauber abgesteckt. Das konnte sie dank des STAY!-Stipendiums. Nach ihrem Rechtsreferendariat, das sie 2019 abgeschlossen hat, wollte die Mutter von zwei Kindern unbedingt wieder zurück an die Universität. Forschen, das sei ihrs, sagt sie. Wie ihr das Stipendium helfe? Es habe ihr vor allem Zeit verschafft. Zeit, um sich mehr Gedanken über ihr Projekt zu machen. In den nächsten Monaten wird sie es ausformulieren und einen Antrag schreiben, um sich auf ein Habilitationsstipendium bewerben zu können. Sinders Kinder werden tagsüber in der Kita betreut. Auch dafür gibt es Geld: Pro Kind bekommen STAY!-Stipendiatinnen 300 Euro im Monat zusätzlich. Eine tolle Sache sei das, zumal das Stipendium flexibel und das Bewerbungsprozedere wenig aufwendig sei. Mutterschaft und Habilitation miteinander zu verbinden sei immer noch ungewöhnlich, betont Sinder. Die Förderung habe es ihr leichter gemacht, diesen Weg einzuschlagen.

Stephanie Streif

 

Bewerbung bis zum 15. März 2020

Die Brückenstipendien „STAY!“ und „Come and STAY!“ der Universität Freiburg verschaffen Wissenschaftlerinnen den nötigen Freiraum, um Forschungs- oder Habilitationsexposés zu verfassen oder Finanzierungsanträge für ihre Arbeit aufzusetzen. Das Vollstipendium richtet sich an herausragende Wissenschaftlerinnen mit einer abgeschlossenen Promotion, die in der Regel nicht länger als zwölf Monate zurückliegt. Der Förderzeitraum beträgt ein Jahr. Der monatliche Stipendienbetrag beträgt 1.800 Euro und wird pro Kind auf Antrag um 300 Euro im Monat aufgestockt. Die Stabsstelle Gender and Diversity nimmt bis zum 15. März 2020 Bewerbungen entgegen.

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