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Eine kulinarische Zeitreise

Der Literaturwissenschaftler René Waßmer untersucht, inwieweit Restaurants ursprünglich Orte der Muße waren

Freiburg, 14.04.2020

Eine kulinarische Zeitreise

Foto: Pixel-Shot/stock.adobe.com

Deutsche Reise- und Korrespondentenberichte aus Paris und London um das Jahr 1800 zeigen: Die seinerzeit neuartigen Restaurants waren ursprünglich nicht zuletzt Orte der Muße. Zu diesem Ergebnis kommt der Literaturwissenschaftler René Waßmer, der im Sonderforschungsbereich (SFB) 1015 Muße der Universität Freiburg mitarbeitet. Seine Untersuchung ist jetzt in der vom SFB herausgegebenen Onlinezeitschrift „Muße. Ein Magazin“ erschienen. Hans-Dieter Fronz hat mit René Waßmer unter anderem darüber gesprochen, was der Begriff „Restaurant“ mit körperlicher Wiederherstellung zu tun hat.

Restaurants in Paris sind nicht nur ein Ort des kulinarischen Genusses, sondern waren in früheren Zeiten auch ein Ort der Muße. Foto: Pixel-Shot/stock.adobe.com

Herr Waßmer, war Paris bereits um 1800 die kulinarische Hauptstadt Europas?

René Waßmer: Paris war gemeinsam mit London das Zentrum der Kulinarik in Europa. Das hatte mit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung dieser beiden Städte zu tun. Um 1800 waren es die beiden einzigen Städte, die man heute als Metropolen bezeichnen würde. Was natürlich jeweils mit der zentralistischen Funktion in ihrem Land zu tun hat. Das schuf letztlich die Möglichkeit, dass in den beiden Städten ein überaus reiches und umfangreiches kulinarisches Angebot und eine darin gründende Esskultur entstehen konnte.

Der Begriff „Restaurant“ entstand erst damals – was ist seine ursprüngliche Bedeutung?

Körperliche Wiederherstellung, genau das schwingt in dem Wort mit. Interessant ist, dass sich der Begriff ursprünglich auf so etwas wie eine stärkende Suppe oder Brühe bezog. Es gibt die Legende, dass der erste Pariser Restaurantwirt über die Tür seines Hauses ein Zitat aus dem Matthäus-Evangelium schrieb: „Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Schenkt man der Legende, die übrigens quellenmäßig nicht nachzuweisen ist, Glauben, ging es tatsächlich erst einmal um die Stärkung und Wiederherstellung des arbeitsbeladenen Subjekts. Das ist auch genau der Punkt, an dem ich in meinem Artikel einsetze, indem ich frage: War’s das schon? Oder steckt da noch mehr dahinter?

Sie sprechen von den „neuen Wegen der Ernährung und der Gastronomie“, die in den aufkommenden Restaurants beschritten wurden. Offenbar waren es über die Kulinarik hinaus Orte einer „lockeren“ Geselligkeit – und eben damit auch der Muße?

Ja, meine These ist, dass Restaurants nicht rein kulinarische Orte waren, sondern auch mit anderen Funktionen aufgeladen, sie dienten etwa der urbanen Geselligkeit. Das kannte man in den deutschen Staaten in dieser ausgeprägten Form nicht. Eben deshalb wird es in den Reise- und Korrespondentenberichten zum Thema. Wenn beispielsweise der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt damals in solche Restaurants ging, spielte die Kulinarik für ihn keine zentrale Rolle. Er interessierte sich vielmehr für die gesellschaftlichen Umgangsformen. Es ist sehr bemerkenswert, wie er in seinem Werk diese französische urbane Geselligkeit der rückständigen deutschen Geselligkeit gegenüberstellt.

René Waßmer analysiert deutsche Reise- und Korrespondentenberichte aus Paris und London um das Jahr 1800. Seine Ergebnisse sind jetzt in „Muße. Ein Magazin“ erschienen. Foto: privat

Worin genau liegt der Mußefaktor eines Restaurantaufenthalts in Paris um 1800?

In einer spezifischen Wahrnehmungsform des deutschen Beobachters, der ja selbst nicht direkt in diese urbanen Abläufe involviert ist. Seine Mußeerfahrung besteht darin, für deutsche Augen fremdartige Phänomene zu beobachten. Arndt nimmt die Geselligkeit selbst als Mußegeschehen wahr: Und dieses gilt bei ihm durchaus auch für die einheimischen Gäste. Wenn er sagt, der deutsche Reisende könne durch Beobachtungen in Pariser Restaurants auch für das eigene Verhalten und die eigenen Formen von Geselligkeit profitieren, so ist das genau das, was wir in unserem SFB unter Muße verstehen – nämlich die produktive Unproduktivität.

Kann auch heute noch ein Restaurantbesuch Muße gewähren?

Das hängt von den jeweiligen Rahmenbedingungen und Gründen ab, weshalb man ein Restaurant aufsucht. Man kann sich beispielsweise in ein Restaurant setzen und dort Menschen beobachten, also quasi mit dem Auge flanieren. Man kann aber ein Restaurant genauso gut aufsuchen, um lediglich schnell etwas Stärkendes zu konsumieren. Und ebenso kann der Restaurantbesuch funktionalisierten Praktiken zugeordnet sein, wie beispielsweise einem Geschäftsessen. Der Restaurantbesuch weist heute eine potenzielle Vielfalt auf, die ja auch für die von mir analysierten Texten prägend ist.

Und ist oder war das Restaurant zugleich eine Bühne der Selbstinszenierung?

Ja, es geht den Einwohnerinnen und Einwohner der Metropolen sehr stark darum, den eigenen Status zur Geltung zu bringen. Man sieht das schon daran, dass die deutschen Berichterstatter nicht müde werden, die Unterschiede zwischen den Restaurants zu betonen. Sie sind ein Spiegel der gesellschaftlichen Ungleichheit, die sich im Geschehen in den Restaurants genauso gut widerspiegelt wie in den Wahrnehmungsformen der deutschen Beobachter.

Ist ein Restaurant also als Ort, in dem die feinen und auch weniger feinen Unterschiede wichtig sind?

Was die deutschen Besucher Pariser Restaurants eigentlich beschreiben, ist deren Einteilung in soziale Schichten – letztlich nach dem Geldbeutel, insbesondere natürlich bei den höherpreisigen Restaurants. Und das lässt sich sicherlich auch heute beobachten.

 

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