Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken Erzählen über Migration

Erzählen über Migration

Das Projekt „Tracing Narratives of Flight and Migration“ verbindet Theorie und Praxis

Freiburg, 12.04.2019

Erzählen über Migration

Foto: Jonathan Stutz/stock.adobe.com

Als im Herbst 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, mussten notwendige Infrastrukturen geschaffen werden, unter anderem eine medizinische Versorgung. Eine Kulturanthropologin, eine Psychologin und eine Ärztin mussten deshalb ihre zunächst theoretischen Überlegungen schnell umsetzen.

 Als im Herbst 2015 viele Menschen nach Deutschland kamen, mussten notwendige Infrastrukturen geschaffen werden, unter anderem eine medizinische Versorgung für Geflüchtete. Foto: Jonathan Stutz/stock.adobe.com

Was meinen Geisteswissenschaftler, wenn sie von „Narration“ sprechen, was Mediziner oder Psychologen? Diese Frage musste sich Anne-Maria Müller stellen, als sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen einen fachlichen Austausch zum Thema Migration begann: „Wir haben am Anfang viel Zeit damit verbracht, unser Vokabular zu verstehen. Der Begriff der Narration hat für uns alle eine große Bedeutung, wir nutzen ihn nur unterschiedlich“, sagt die Psychologin des Universitätsklinikums Freiburg. Medizinerin Dr. Berit Lange, die ebenfalls am Universitätsklinikum arbeitet, ergänzt: „Er ist Kern der Forschung oder auch ein Werkzeug.“

Lange und Müller waren Mitglieder der Projektgruppe „Tracing Narratives of Flight and Migration“ des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) der Albert-Ludwigs-Universität. Dieses Projekt bestand von 2016 bis 2018 und war aus dem Freiburger Netzwerk für Migrations- und Integrationsforschung (FREINEM) hervorgegangen. Schon FREINEM machte den Wissens- und Erfahrungsaustausch zu einem Teil der Forschung; darüber hinaus wurden verschiedene Veranstaltungen zum Themenbereich organisiert, Informationen zugänglich gemacht sowie Erfahrungen mit Initiativen aus Freiburg und der Umgebung geteilt. Sowohl das Netzwerk, das seit 2011 besteht, als auch die Projektgruppe sind Zusammenschlüsse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen. Ihnen gehören Forschende der Medizin, Psychologie und Sozialarbeit, der Europäischen Ethnologie, Politikwissenschaft und Geografie an. Dringlich und gesellschaftlich relevant wurde der Forschungsgegenstand des FRIAS-Projekts, als im Zuge weltweit zunehmender Migrationsbewegungen im Herbst 2015 viele Menschen nach Deutschland kamen. Dies erforderte die Schaffung verschiedener Infrastrukturen, unter anderem einer medizinischen Versorgung für Geflüchtete in den Erstaufnahmeeinrichtungen.

Unterschiedliche Erzählungen

Prof. Dr. Anna Lipphardt vom Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg sowie Sprecherin von FREINEM und Mitorganisatorin der Projektgruppe betrachtet bei Erzählungen immer auch die Kommunikationssituationen. Dass nicht immer wertfrei kommuniziert wird, verdeutlicht sie an einem Beispiel: In der Stuttgarter Ausstellung „Überlebensgeschichten von A bis Z. Dinge von Geflüchteten“ im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, so erzählt sie, war ihr das Smartphone eines jungen Gambiers mitsamt Vertrag aufgefallen. „Im Herbst 2015 diskutierten viele Menschen darüber, dass alle Migrantinnen und Migranten Smartphones besäßen“, sagt sie. Es war eine Debatte, die nicht ohne Ressentiments geführt wurde, denn wie konnte es sein, dass jemand, der alles verloren hatte, sich ein so teures Gerät wie ein Smartphone leisten konnte? Das Exponat, so die Freiburger Forscherin, stehe jedoch für eine Technologie, mit der die Geflüchteten navigieren, Notrufe absetzen und mit der Verwandtschaft in der Heimat Kontakt halten konnten. Kurzum: Es erzähle eine ganz andere Geschichte.

Wichtiger technischer Begleiter: Mit ihrem Smartphone können Geflüchtete navigieren, Notrufe absetzen und mit der Verwandtschaft in der Heimat Kontakt halten.
Foto: Emiliano Vittoriosi/Unsplash

Aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit Holocaustüberlebenden weiß die Anthropologin, dass Opfer von Gewalterfahrungen oft traumatisiert sind und dass es Erlebnisse gibt, über die Menschen nicht sprechen können, von denen sie aber durch Körpersprache, Syntaxveränderungen und Gedankensprüngen in der Erzählung unwillkürlich erzählen. All dies kann auch auf Geflüchtete zutreffen. Die Narrationen der Menschen auf der Flucht, so Lipphardt, unterscheiden sich, je nachdem, ob sie sich an Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, an freiwillige Helferinnen und Helfer oder an Grenzpolizistinnen und -polizisten richten.

Gesundheitsversorgung von Geflüchteten

Lange und Müller begannen Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, als sie sich in einer Freiburger Erstaufnahmestelle in die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten einbrachten. der Die Abteilung Infektiologie des Universitätsklinikums koordinierte ihren Einsatz. Bereits Ende 2014, berichtet Lange, deren Schwerpunkt die Tuberkuloseforschung ist, habe sich ein Team des Universitätsklinikums Gedanken gemacht, wie eine solche Gesundheitsforschung gestaltet werden könnte. „Wir brauchten Output nicht nur aus medizinischen Fachbereichen“, erinnert sich die Ärztin. „Es spielten viele soziale Themen hinein“, ergänzt Müller. „Man muss die Gesetzeslage kennen.“ Nicht zuletzt deshalb, weil sich die medizinischen Leistungen nach dem Aufenthaltsstatus richten. Da lag eine Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen nahe.

Die Gesundheitsversorgung der Erstaufnahmestelle umfasste zunächst eine allgemeinärztliche Ambulanz mit regelmäßigen psychologischen, pädiatrischen und gynäkologischen Sprechstunden. Der Unterschied zu vergleichbaren Einrichtungen war, dass sie von Medizinerinnen und Medizinern des Universitätsklinikums betrieben wurde und nicht ehrenamtlich von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Während Geflüchtete oft ähnliche allgemeinmedizinische Probleme wie einheimische Patientinnen und Patienten haben, verlaufen die Arzt-Patienten-Gespräche in der Regel ganz anders. Da ist vor allem das Verständigungsproblem: Sind Übersetzer anwesend oder werden zugeschaltet, ist das Vier-Augen-Prinzip aufgelöst. Auch wissen viele Patienten nicht, welche Rechte sie haben. Zudem kommt es vor, dass Geflüchtete um Atteste bitten, weil sie wissen, dass diese ihr Aufenthaltsverfahren positiv beeinflussen können. Darüber hinaus ist die besondere Verletzlichkeit der Geflüchteten ‒ die auch Lipphardt als wesentlich für irreguläre Migration nennt ‒ von Bedeutung für die praktische Arbeit von Lange und Müller.

Bekannte Untersuchung in unbekannter Situation: Die besondere Verletzlichkeit der Geflüchteten war von Bedeutung für die praktische Arbeit der Ärzte.
Foto: absolutimages/stock.adobe.com

Übergangslösung verstetigte sich

„Wir haben uns von Anfang an viel mit ethischen Fragen befasst. Belastet sind alle, die in Erstaufnahmestellen leben, denn sie befinden sich in einer prekären Situation. Die Menschen versuchen hier Fuß zu fassen und mit ihrer Vergangenheit umzugehen. Zugleich sind manche von der Abschiebung nach Italien oder in die Maghrebstaaten bedroht“, sagt Müller. Schlafstörungen, Unwohlsein und Schmerzen seien typische Symptome, mit denen auf belastende Situationen reagiert werde. Manchmal diagnostizierten die Ärzte auch Depressionen oder Angststörungen. Wenn es notwendig war, konnte Müller Patienten in die Psychiatrie überweisen. Was von der Politik als Übergangslösung für wenige Wochen gedacht war, verstetigte sich in der Praxis. „Lebt jemand länger als zwölf Wochen in einer derartigen Erstaufnahmestelle, ist das gesundheitlich nicht gut“, glaubt Lange, die, wie auch ihre Kollegin, eine dezentrale Unterbringung nach dieser Zeitspanne für sinnvoll hält. In einem Aufsatz, den die beiden mit weiteren Kollegen veröffentlicht haben, formulieren sie den Zwiespalt, in dem sich die behandelnden Ärzte befinden: Durch die Zielkonflikte zwischen medizinischer Behandlung und Forderungen des Asylverfahrens entstehe für die Mediziner manchmal der Eindruck, sie würden mit ihrer Tätigkeit ein System aufrechterhalten, das sie in seinen Grundsätzen eigentlich nicht unterstützen.

Das Problem gründe in der Geschichte der Bundesrepublik, denn Migrationsforschung, so rekapituliert Lipphardt, sei lange Integrationsforschung gewesen. Die Erforschung der Deportationen und Bevölkerungsverschiebungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg sei vor allem von Historikerinnen und Historikern betrieben worden, die sich nicht als Migrationsforscher verstanden. Die empirische Sozialwissenschaft hingegen habe sich auf staatlich gewollte Arbeitsmigration und Integration konzentriert. Während heute viele Menschen, die nicht über die „richtigen“ Papiere verfügen, chaotische und gefährliche Reisen auf sich nehmen, konnten Arbeitsmigrantinnen und -migranten, versehen mit dem entsprechenden Visum, via Flugzeug oder Zug einreisen und fanden einen Arbeitsplatz vor.

Die Freiburger Ärztinnen haben aus diesem wissenschaftlichen Vakuum ihre Schlüsse gezogen: Als sie 2014 anfingen, die Ambulanz aufzubauen, half ihnen der Besuch vergleichbarer Einrichtungen mehr als die internationale Forschungsliteratur. Deshalb haben sie nun angefangen, ihre Ergebnisse zu publizieren.

Annette Hoffmann