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Leiden im Lockdown

Eine Studie hat ermittelt, dass die Anrufe bei der Telefonseelsorge um mehr als 20 Prozent anstiegen

Freiburg, 26.06.2020

Leiden im Lockdown

Foto: Alex from the Rock/stock.adobe.com

Soziale Isolation, Beschränkungen der individuellen Freiheit, ökonomische Sorgen, doppelte Belastung aufgrund von Arbeit und Betreuung von Kindern, Angst vor dem Verlust des Jobs und um den Zusammenhalt der Gesellschaft und nicht zuletzt ein neuartiges Virus, das lebensgefährlich werden kann: Corona versetzt das Land seit Monaten in einen Ausnahmezustand, und die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit rücken zunehmend in den Mittelpunkt. Doch was genau treibt die Menschen um – und steht es zum Beispiel in einem Zusammenhang zu den Eindämmungsmaßnahmen des jeweiligen Bundeslandes? Die Freiburger Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Stephanie Armbruster und ihr Kollege Valentin Klotzbücher haben solche Effekte in einer Studie ermittelt. Dafür griffen sie auf einen großen Datensatz der deutschlandweit aktiven Telefonseelsorge zurück.

In den ersten Wochen des Shutdown griffen mehr Menschen zum Telefon, um mit Sorgen und Kummer fertigzuwerden. Foto: Alex from the Rock/stock.adobe.com

Als die Quarantäne in Wuhan aufgehoben wurde, war von Scheidungen und Trennungen zu hören. Es klang plausibel: Ein Zusammenleben auf zu engem Raum für unbestimmte Zeit, von weiteren sozialen Kontakten abgeschnitten und ohne die alltäglichen Beschäftigungen hat das Potenzial für Konflikte. Hinzu kamen die Erfahrungen mit der SARS-Epidemie von 2003. Damals stieg die Suizidrate in China in außergewöhnlichem Maße an. Europa war also vorgewarnt. Doch Anfang 2020 schaute Europa noch aus weiter Entfernung der Corona-Pandemie zu.

Nachdem Deutschland mit dem gesellschaftlichen Rückzug Mitte März und der Schließung von Geschäften neue Verhaltensregeln im sozialen Umgang lernte und die Menschen sich mehr oder weniger gut im Lockdown einrichteten, wurden die mentale Gesundheit und die Lebensqualität auch hierzulande ein Thema. Neben dem Virus und der von ihm ausgelösten Erkrankung Covid-19 sowie den ökonomischen Folgen des Shutdowns geriet immer öfter die Seele in den Blick der Medien. Oft unter Hinzuziehen einer Expertin oder eines Experten aus der Wissenschaft. So warnte etwa der „Deutschlandfunk“ am 25. März vor den psychischen Folgen der Pandemie und ihrer Eindämmungsmaßnahmen und hatte „Strategien gegen Angst und Einsamkeit“ parat. Auf „Spiegel online“ berichteten am 5. April unter der Überschrift „Es fühlt sich an, als wären alle Erfolge vergebens gewesen“ Menschen mit Depressionen und Angststörungen, welchen Umgang sie mit der Krise fanden.

Akademische Neugier, gesellschaftliche Relevanz

Nicht, dass Stephanie Armbruster und Valentin Klotzbücher ein Anstieg psychischer Probleme nicht plausibel erschienen wäre. Doch gleichzeitig machte sich bei ihnen Unbehagen breit. Ließe sich das nicht quantifizieren anstatt nur zu behaupten? Die beiden Freiburger Forschenden kommen aus den Wirtschaftswissenschaften. Armbruster wurde gerade promoviert und arbeitet in Freiburg am Institut für Umweltökonomie und Ressourcenmanagement und in Basel als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Klotzbücher schreibt seine Dissertation an der Wilfried-Guth-Stiftungsprofessur für Ordnungs- und Wettbewerbspolitik in Freiburg. Bei den beiden paart sich derzeit akademische Neugier mit der Befriedigung, an einem gesellschaftlich relevanten Thema zu forschen. „Wenn man mit Daten arbeitet, muss man mit Corona arbeiten. Die ganze Situation ist wie ein großes Experiment“, sagt Armbruster.

Ihre Studie „Lost in Lockdown? Covid-19, Social-Distancing, and Mental Health in Germany“ wurde bereits Ende April in einem Fachjournal veröffentlicht. Das werten die beiden als Erfolg – aufgrund der Aktualität des Themas verkürzten sich gerade die Wege in der Publikation von akademischen Arbeiten. Ihre Studie basiert auf den Daten der Telefonseelsorge. Zuerst wollten Stephanie Armbruster und Valentin Klotzbücher auf Daten von Google Trends zurückgreifen, die aktuelle Suchanfragen abbilden. Doch bei ihrer Recherche stießen sie – wie alle, die nach psychischen Problemen googeln – auf die Telefonseelsorge.

An 107 regionalen Stellen arbeiten etwa 7.500 ehrenamtliche und mehr als 300 angestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für jeden Anruf, Chat oder jede E-Mail wertvolle Angaben über die Anruferinnen und Anrufer festhalten. Dazu gehören Thema des Gesprächs, mutmaßliches Alter, Geschlecht, Lebens- und Wohnsituation sowie die berufliche Beschäftigung. Mittels einer zentralen Statistiksoftware werden die Daten anonymisiert und verwaltet. Armbruster und Klotzbücher konnten auf die Zahlen von 2020 zurückgreifen und nutzten die Angaben von 2019 als Kontrolljahr.

Eine Grafik aus der Studie zeigt: Mit den zunehmenden Eindämmungsmaßnahmen und einem Anstieg der Covid-19-Infektionen schnellte auch die Zahl der Gespräche bei der Telefonseelsorge hoch. Quelle: Stephanie Armbruster, Valentin Klotzbücher

 

Einsamkeit, Angst, Depression

Mit diesem breiten Datensatz konnten Armbruster und Klotzbücher einerseits verschiedene Kriterien wie psychische Gesundheit, körperliche und sexualisierte Gewalt sowie soziale und wirtschaftliche Probleme ausmachen. Andererseits konnten sie die Angaben an die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, die je nach Bundesland unterschiedlich strikt ausfielen, an die Infektions- und Todesraten sowie die Arbeitslosigkeitsrate koppeln. Während der ersten Lockdown-Woche, so schreiben sie in ihrem Paper, stieg das Bedürfnis sich auszusprechen um 20 Prozent und sank langsam wieder in der dritten Woche. Dabei ist der Anstieg, führen sie aus, vor allem durch mentale Probleme wie Einsamkeit, Angst und Depression hervorgerufen.

Die Zunahme trat umso stärker zutage, je strenger die Maßnahmen im jeweiligen Bundesland waren. Während es in den Gesprächen bereits vier Wochen vor dem Lockdown um Angst ging, wurde Einsamkeit in der ersten Woche des Social Distancing zum Thema. Dazu passt, dass vermehrt Menschen anriefen, die alleine leben. Wirtschaftliche Sorgen hingegen spielten eine untergeordnete Rolle – ganz im Gegensatz zu häuslicher Gewalt. Auch hier schnellten die Anrufe in die Höhe, und dies obgleich es hierfür eigene Hotlines gibt und man davon ausgehen muss, dass sich der jeweilige Aggressor im gleichen Haushalt befand.

Was Daten verraten

Warum aber befassen sich ausgerechnet eine Wirtschaftswissenschaftlerin und ein Wirtschaftswissenschaftler mit der psychischen Gesundheit während der Pandemie? „Wir machen Statistik. Und wenn Wirtschaftswissenschaftler Daten finden, mit denen sie etwas Relevantes untersuchen können, sind sie schnell dabei“, sagt Klotzbücher, schränkt aber ein: „Wir haben kein psychologisches Fachwissen.“ Und Armbruster ergänzt: „Unser Thema ist gar nicht weit von dem entfernt, was Wirtschaftswissenschaftler grundsätzlich machen. Zu untersuchen, wie sich politische Maßnahmen auf die Bevölkerung auswirken und welchen Nutzen sie haben.“

Wäre es da nicht reizvoll, Vor- und Nachteile der Eindämmungsmaßnahmen zu berechnen und für eine weitere Welle Empfehlungen auszusprechen? „Ambitioniert“, meinen beide. Denn man wisse nicht, was eine verhinderte Infektion wert sei, wenn man ihre Folgeschäden nicht kenne, führt Klotzbücher aus. Ebenso wenig wie die Kosten des Shutdown, der vielen Schulabgängerinnen und Schulabgängern den Einstieg in den Arbeitsmarkt zumindest erschweren dürfte. Und natürlich entspreche die Anzahl der Anrufenden nur einem geringen Sample der Gesamtbevölkerung. Doch Angebote wie das der Telefonseelsorge, da sind sich die beiden einig, haben sich bewährt und könnten bei einer zukünftigen Welle noch wichtiger werden. Stephanie Armbruster und Valentin Klotzbücher jedenfalls wollen das Thema weiterverfolgen und sich mit Schweizer Kolleginnen und Kollegen vernetzen, um weltweite Daten zu sammeln.

Annette Hoffmann

 

Studie von Stephanie Armbruster und Valentin Klotzbücher