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Mehr als Dreadlocks, Joints und Badelatschen

Benjamin Burkharts Musikanalyse des Reggae-Genres widerlegt und bestätigt gängige Klischees

Freiburg, 14.01.2020

Mehr als Dreadlocks, Joints und Badelatschen

Foto: meik17/stock.adobe.com

Harmonischer Minimalismus und gesangliche Variabilität: Damit haben Reggae-Songs gute Chancen bei deutschen Fans, sagt der Freiburger Musikwissenschaftler Dr. Benjamin Burkhart. Er hat eine Musikanalyse zu dem Genre vorgelegt, das sich viele Gesellschaften angeeignet haben, auch hierzulande. Burkhart hat auch Fotos und Artikel des Genres analysiert: Während die Fans nur teils gängigen Klischees entsprechen, bedienen Musiker diese zum Beispiel auf Fotos gern.


Die panafrikanischen Farben grün, gelb und rot dürfen bei Reggae-Darstellungen nicht fehlen. Foto: meik17/stock.adobe.com

Im Popgeschehen bildet Reggae nur eine kleine Nische. „Das Genre ist aber sehr interessant, was den Kulturtransfer anbelangt“, sagt Musikwissenschaftler Benjamin Burkhart vom Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) der Universität Freiburg. Seinen Ursprung hat Reggae auf der Karibikinsel Jamaika. Für ein exotisches Randgenre existieren in vielen Ländern aber beachtlich große Szenen – etwa in Deutschland. Wie setzen sich die hiesigen Fans mit der Musik auseinander? Welche Stars und Songs würdigen sie? Solche und andere Fragen hat Burkhart für seine Doktorarbeit untersucht. „Die Rezeption im deutschen Raum befasst sich kaum mit deutschen Reggae-Musikern“, staunt er. Sie stehen tief im Schatten ihrer jamaikanischen Kollegen.

Tropischer Reggae und urbaner Dancehall

Beiläufig relativiert Burkharts Musikanalyse auch Vorurteile: Kiffende Reggae-Fans mit verfilzten Dreadlocks und Badelatschen entsprächen nur teilweise der Wahrheit. „Da ist die Realität konträr zum öffentlichen Bild.“ Burkhart hat Reggae-Begeisterte anders erlebt – „viel differenzierter“. Allerdings liefen ihm auf Festivals auch Abziehbildfans mit Locken, Latschen und Joints über den Weg: „Es gibt diese Klischeehaftigkeit schon, aber sie trifft meinem Eindruck nach nur auf einen kleinen Teil zu.“ Der Musikwissenschaftler hat Hunderte Texte und Bilder aus deutschen Reggae-Medien analysiert und Hunderte an Songs. Dabei hat er unter anderem entdeckt, welche Künstler genreübliche Stereotype bedienen.

Burkhart präsentiert die Scheibe „The Winter Soldier“ von Busy Signal. Er ist ein bekannter Vertreter der Stilrichtung Dancehall – einer der zwei großen Äste der jamaikanischen Popmusik. Trotz einiger Unterschiede in Sprechgesang und Rhythmik erinnert Dancehall an nordamerikanischen Hip-Hop. Auf Abbildungen inszenieren sich Dancehall-Stars auch gerne ähnlich grimmig und martialisch wie US-Rapper: Busy Signal trägt eine automatische Waffe am Rücken und blickt finster über seine Schulter in die Kamera. „Fotos stellen Dancehall-Interpreten zudem oftmals urban dar, in großstädtischem Kontext“, sagt Burkhart. Ganz andere Vibrations verbreitet Reggae. Er pflegt die klassische Rhythmik wie einst schon Bob Marley und ist von Gesang dominiert. „Fotos bilden Reggae-Musiker häufig in der Natur ab, in tropischer Umgebung“, erklärt Burkhart. Meistens zieren Dreadlocks die Köpfe, irgendwo leuchten noch die panafrikanischen Farben grün, gelb und rot nach dem Vorbild der äthiopischen Flagge.

Erste Erfahrungen als Gitarrist

Burkhart zieht ein Fazit und einen Vergleich zu Artikeln in deutschen Reggae-Medien, zum Beispiel in Szenezeitschriften: „Die visuelle Ebene bedient die Klischees, die man im Kopf hat, viel mehr als alles, was die textliche Ebene angeht.“ In seiner Dissertation „Genre im Diskurs“ hat er weitere Aspekte und Details analysiert. Im Quellenverzeichnis taucht oft das deutsche Magazin „Riddim“ auf. „Es war meine wichtigste Basis für Texte und Bilder.“ Burkhart wollte nur bestehendes Material verwenden, also etwa keine eigenen Interviews mit Leuten aus der Szene führen. Auf das Thema Reggae stieß er, weil eine Analyse dazu fehlte und ihn der musikalische Inhalt interessierte – auch aus eigener Erfahrung: Vor etwa 15 Jahren hat er unweit von Freiburg als Gitarrist in einer Ska-Punk-Reggae-Band gespielt. Er ist im Schwarzwald-Baar-Kreis aufgewachsen.

Musikwissenschaft hat Burkhart in Würzburg studiert. Für seinen Master und die Promotion ging er nach Weimar. Seit 2018 ist er am ZPKM wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Musikobjekte der populären Kultur“: Darin geht es um die Kulturgeschichte von Abspielgeräten. Nebenher will er seine Reggae-Forschung fortsetzen, die frühe Rezeption und Aneignung in Deutschland erkunden. Bei den heutigen Fans hat er eine „Wertschätzung für minimalistische Gestaltungsweisen“ festgestellt: Sie bevorzugen nur ein paar wenige Muster, was Tempo, Groove und Harmonik angeht. Dagegen verfüge der Gesang über eine „beachtliche Bandbreite möglicher Gestaltungsweisen“. Hier loben Kritiken und Berichte hohe Variabilität. Auch bei Vokalisten aus Deutschland, sofern sie einmal Erwähnung finden. „In der deutschen Rezeption“, sagt Benjamin Burkhart, „erscheint es fast so, als bestehe die einheimische Reggae-Musiker-Szene nur aus dem großen Kölner Star Gentleman.“

Jürgen Schickinger

 

Zentrum für Populäre Kultur und Musik