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Modell für Menschenwürde

Das bedingungslose Grundeinkommen hätte in Deutschland eine Chance, findet Karl Justus Bernhard Neumärker

Freiburg, 19.10.2017

Modell für Menschenwürde

Foto: contrastwerkstatt/Fotolia

Wenn es sich ein Land leisten kann, das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) einzuführen, dann ist das Deutschland, ist Prof. Dr. Karl Justus Bernhard Neumärker überzeugt. Der Wirtschaftswissenschaftler glaubt, dass das BGE eine echte Chance hätte. Und sogar mehr als das – es wäre eine mögliche Lösung für Herausforderungen der Zukunft wie die zunehmende Digitalisierung und Robotisierung, die den Arbeitsmarkt gravierend verändern werden.

Das bedingungslose Grundeinkommen könnte Arbeitnehmern die Chance bieten, über ihre berufliche Entwicklung nachzudenken und sich vor Ausbeutung zu schützen. Foto: contrastwerkstatt/Fotolia

„Was würdest du tun, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre?“ Ein Mann, etwa Anfang 30, blickt eindringlich in die Kamera. Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln: „Ich bin Micha aus Berlin, und ich lebe seit Kurzem genau das.“ Micha, genauer: Michael Bohmeyer, sieht aus wie ein typischer Hipster aus Friedrichshain oder Kreuzberg: das T-Shirt modebewusst zerknittert, türkisfarbene Hose, die blonden Haare lässig verwuschelt. Während er durch die Straßen seines Kiezes streift, die von blühenden Bäumen und gepflegten Altbauten gesäumt sind, erzählt er von seinem neuen Leben. Eigentlich habe er sich ausruhen und einfach mal faul sein wollen, aber er verspüre einen immensen Schaffensdrang: „Ich fühle mich frei und sorglos, habe den Kopf voller Geschäftsideen, engagiere mich ehrenamtlich, kann ein besserer Vater sein und lebe auch noch gesünder.“

2014 hat Bohmeyer den Verein „Mein Grundeinkommen“ gegründet. Ein Experiment, mit dem er die „Gesellschaft von morgen“ testen will: Auf einer Internetplattform sammelt der Verein Spenden – sobald 12.000 Euro zusammenkommen, werden sie verlost und an eine Person verschenkt. 12.000 Euro für zwölf Monate ohne Stress und Sorgen. Bisher hat der Verein über Crowdfunding 94 Grundeinkommen finanziert und sammelt nun für Nummer 95.

Was in Deutschland ein privater Vorstoß ist, wird in anderen europäischen Ländern bereits auf Staatsebene verhandelt: 2016 ließ die Schweiz in einem Referendum über das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) abstimmen, Finnland testet seit 2017 gleich mehrere Varianten des BGE. Auch die Bundesrepublik sollte diesen Schritt wagen, findet Prof. Dr. Karl Justus Bernhard Neumärker: „Wenn es sich ein Land leisten kann, das BGE einzuführen, dann ist das Deutschland. Unser Staat verfügt über ein großes Vermögen, und wir haben mit der Idee der sozialen Marktwirtschaft zumindest schon einmal die richtige gedankliche Grundlage dafür.“

Keine Fragen, keine Forderungen

Neumärker leitet die Abteilung für Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorie an der Universität Freiburg. Unter seinen Fachkolleginnen und -kollegen gilt er bundesweit eher als Exot – Parolen wie „soziale Gerechtigkeit“ oder „gesellschaftliche Teilhabe“ gehören in den Wirtschaftswissenschaften nun mal nicht zu den Forschungsinteressen, die ganz oben auf der Liste stehen. „Als ich vor zehn Jahren bei einer Konferenz prognostizierte, dass man auch in Demokratien bald fordern würde, Managergehälter zu deckeln oder Mindestlöhne einzuführen, wurde ich fast vom Hof gejagt“, erinnert er sich lachend.

Neumärker glaubt, dass das BGE eine echte Chance hätte. Und sogar mehr als das – es wäre eine mögliche Lösung für Herausforderungen der Zukunft wie die zunehmende Digitalisierung und Robotisierung, die den Arbeitsmarkt gravierend verändern werden: „Es ist unrealistisch, dass wir die vielen arbeitslos gewordenen Menschen mit genügend neuen Stellen versorgen könnten. Schließlich geht es beim Einsatz humanoider Roboter darum, die Arbeitskraft des Menschen zu ersetzen und nicht darum – wie in der ersten digitalen Welle –, ihm die Arbeit zu erleichtern.“

Die zunehmende Digitalisierung und Robotisierung werden den Arbeitsmarkt gravierend verändern. Karl Justus Bernhard Neumärker hält es für unrealistisch, dass die vielen entlassenen Menschen wieder in die Lohnarbeit gebracht werden können. Foto: industrieblick/Fotolia

Zurzeit leitet Neumärker unter anderem Studien zur individuellen Zeitaufteilung unter einem BGE im Vergleich zu sozialstaatlichen Konzeptionen wie dem so genannten Hartz VI, zur Entkoppelung von Arbeit und Entlohnung und zum BGE als Mechanismus, der wettbewerbsbedingte Diskriminierungen abfedern könnte – zum Beispiel zwischen Männern und Frauen. Seine Forschungsergebnisse zeigen: Das BGE könnte einen Grundstein für Gerechtigkeit und sozialen Frieden legen und beide dauerhaft sichern. In den Augen des Wissenschaftlers ist es ein Modell für Menschenwürde: „Damit könnte man zum Beispiel Leute, die im Niedriglohnsektor arbeiten, nicht mehr ausbeuten. Wenn der Chef mit einer weiteren Gehaltskürzung daherkäme, könnte der Arbeitnehmer kündigen und sich in Ruhe Gedanken über seine berufliche Weiterentwicklung machen.“ Das würde allerdings nur funktionieren, wenn das BGE hoch genug angesetzt wäre, betont Neumärker. In Deutschland werden derzeit 1.000 Euro monatlich diskutiert.

Schleier des Unwissens

Der Wissenschaftler bezeichnet seinen Ansatz als „Neuen Ordoliberalismus“. Damit baut er auf der Tradition der „Freiburger Schule“ auf, die in der Ordnungspolitik die Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft sah. Ein starker Staat hält, vereinfacht gesagt, die Wirtschaft in einem ständigen Wettbewerb und garantiert seinen Bürgern dadurch Freiheit und Stabilität. Neumärker ergänzt die Denkschule um eine neue Komponente: soziale Gerechtigkeit. In seiner Arbeit will der Ökonom Fragen untersuchen, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben seien: Nach welchen Kriterien verteilt eine Gesellschaft ihren Reichtum, unter welchen Bedingungen kommen Akteurinnen und Akteure aus Politik und Wirtschaft auf die Idee, ihr Verhalten zu überdenken, und wann gilt etwas als fair oder als ungerecht?

„Social Contract Lab“ heißt das Experimentallabor, in dem Neumärker die Probandinnen und Probanden neue gesellschaftliche Ordnungen aushandeln lässt. „Labor“, das bedeutet: ein Hörsaal, Computer zum Chatten und eine Menge Trennwände. Denn Anonymität ist entscheidend. Die Teilnehmenden haben zwar die Aufgabe, über Grundregeln der Gesellschaft zu verhandeln, doch sie wissen nicht, wo sie in der von ihnen gemeinsam festgelegten Ordnung später stehen werden.

„Hinter den Schleier dieses Unwissens ließen sich die Probanden mit großer Mehrheit immer dann führen, wenn es um Fragen sozialer Gerechtigkeit ging“, berichtet Neumärker. „Sie wählten Modelle, die ein BGE berücksichtigten, und nicht etwa die klassische Marktwirtschaft, in der die Produktivität die Höhe des Einkommens bestimmt. Offenbar gibt es nicht nur das Argument der Effizienz, sondern auch das der Fairness.“ Den Probanden war es also wichtig, zunächst dafür zu sorgen, dass alle Mitglieder der Gesellschaft gleichmäßig abgesichert sind. Dann waren sie etwa auch bereit, Niedriglöhne zu akzeptieren.

Altes Modell, neue Argumente

Doch zu welchem Preis lässt sich Fairness herstellen? Mit anderen Worten: Welche Auswirkungen hätte es auf das Bruttoinlandsprodukt, wenn jeder eine bedingungslose Grundsicherung quasi zur Geburt geschenkt bekäme? Ein Horrorszenario für Verfechterinnen und Verfechter der klassischen Leistungsgesellschaft, die davor warnen, dass das BGE Menschen bis zur chronischen Faulheit entspannen würde. Glaubt man den strahlenden Gesichtern auf der Website von „Mein Grundeinkommen“, scheint jedoch das Gegenteil der Fall zu sein. Die Gewinner sind zu wahren Arbeitsbienen mutiert: Judy kann endlich ihre Energie in ihre Eisdiele stecken, weil sie den Gründungskredit abbezahlt hat. Hildegard verwirklichte einen Lebenstraum und brachte ein Theaterstück auf die Bühne. Christoph kündigte seinen Job im Callcenter und begann eine Ausbildung zum Erzieher. Was ist also realistisch?

Neumärker erforscht, wie Menschen mit dem BGE ihre Zeit gestalten und einsetzen würden. Dazu entwickelt er zusammen mit einer Doktorandin eine Formel, die das gängige Arbeit-Freizeit-Modell um neue Faktoren erweitert. Bisher berücksichtigt es lediglich die Zeit, in der ein Individuum arbeitet, also Geld verdient, und die Zeit, in der es nicht arbeitet, ergo unproduktiv ist. Ehrenamtliches Engagement oder Hobbys haben in der Schwarz-Weiß-Formel keinen Platz. Neumärker baut in das Modell nun Faktoren wie freiwillige Tätigkeit, Muße und Kreativität ein.

Wer Freude am Yoga hat, erledigt seine Arbeit effizienter? Das Team an der Professur für Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorie erweitert das Arbeit-Freizeit-Modell um Faktoren wie freiwillige Tätigkeit, Muße und Kreativität. Foto: Syda Productions/Fotolia

„Anhand der Berechnungen ließe sich wunderbar ablesen, wie sich ein Pauschalbetrag tatsächlich auf das Verhalten der Leute auswirken würde und unter welchen Bedingungen sie sich wie verhalten würden.“ Noch hat der Forscher keine finalen Ergebnisse, doch er ist überzeugt: Mit dem BGE würden Menschen ihre Zeit, das knappste aller Güter, anders nutzen. „Darum geht es mir vor dem ordnungspolitisch-philosophischen Hintergrund meiner Arbeit: Was wäre denn, wenn es sich nicht nur die reiche ‚Leisure Class‘, sondern zum Beispiel auch Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor leisten könnten, weniger zu arbeiten und mehr Freizeit zu genießen? Das wäre dann wirklich eine Umverteilung von Freizeit und eine Absicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.“

Kluge Experimente in der Politik

Hierzulande ist das BGE keine neue Idee: In einer repräsentativen Umfrage eines großen deutschen Cashbackportals aus dem Jahr 2017 gaben 73 Prozent aller Deutschen an, schon einmal vom BGE gehört zu haben, und 75 Prozent von ihnen wünschen sich, dass es eingeführt wird. Auch deutsche Politikerinnen und Politiker unterschiedlicher Couleur diskutieren die Idee seit Jahrzehnten; das BGE findet sich in diversen Varianten bei der CDU, der FDP, bei den Grünen und der Linken. „Unsere Verfassung erlaubt es jetzt schon, das BGE als Element des Sozialstaats einzuführen, und man darf auch experimentieren“, betont Neumärker. Darin sieht er den Schlüssel zum Erfolg: „Wir müssen unterschiedliche Varianten des BGE testen, um herauszufinden, welches Modell sich durchsetzt. Es geht aber nicht darum, va banque zu spielen, sondern darum, realistisch zu handeln und die Bevölkerung mit einzubeziehen.“

Von den Versuchen in der Schweiz und in Finnland könne man einiges lernen, denn beide seien nicht besonders erfolgreich. Die Eidgenossenschaft habe zu viel auf einmal gewollt: Der Staat setzte das BGE bei umgerechnet etwa 2.250 Euro monatlich an; im Referendum konnten die Leute lediglich Ja oder Nein ankreuzen. „Selbst den Schweizern war die Summe zu hoch. Sie hatten Sorge, dass das auf Dauer nicht bezahlbar wäre, und lehnten das BGE ab.“ Die Finnen hingegen wollten, so vermutet Neumärker, vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit im Land senken und bezuschussen deswegen lediglich Arbeitslose mit 650 Euro monatlich. Dieser Ansatz widerspreche aber der Grundidee des BGE. Trotzdem sei Finnland mit der Umsetzung auf dem Weg der Zukunft: „Wir dürfen nicht vergessen, dass Finnland bei der Digitalisierung bereits viel weiter ist als Deutschland“, sagt Neumärker. Dort sehe man bereits, wie sie sich auf dem Arbeitsmarkt niederschlage. „Mit dem BGE hätten wir auf die Dauer eine Handhabe, aber nicht mit Hartz IV. Denn wo menschliche Arbeit wegrationalisiert wird, kann man auch durch beste und chancengleiche Aus- und Weiterbildung nur wenige aus der Arbeitslosigkeit in die Lohnarbeit bringen.“

Rimma Gerenstein