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„Nur was wir kennen, können wir schützen“

Allein der Abbau von Pestiziden kann das Insektensterben nicht stoppen – was muss der Mensch tun, um den Tieren ihre Existenzgrundlage zu lassen?

Freiburg, 11.10.2019

„Nur was wir kennen, können wir schützen“

Foto: Ingeborg F. Lehmann

Fast täglich schlagen Zeitungen, Magazine und Nachrichtensendungen Alarm: Das Wort „Insektensterben“ ist in aller Munde. Zahlreiche Initiativen werden gegründet, Gesetze werden erlassen – doch was hilft wirklich, um den Rückgang der Tiere zu stoppen? Michael Boppré, Professor für Forstzoologie und Entomologie an der Universität Freiburg, erforscht seit mehr als 30 Jahren Insekten. Eva Opitz hat ihn gefragt, ob Insektensammlungen ethisch vertretbar sind, warum das Insektensterben durch den Abbau von Pestiziden nicht zu verhindern ist und weshalb die proteinreichen Tiere keine Lösung für Hungerkrisen sind.

Klein, unscheinbar, doch ökologisch von großer Bedeutung: In der Insektensammlung finden sich Tiere, die Laien niemals zu Gesicht bekommen. Foto: Ingeborg F. Lehmann

Herr Boppré, zu Ihrer Professur gehört eine große Sammlung tropischer Schmetterlinge. Ist es heutzutage noch angebracht, Insektensammlungen anzulegen?

Michael Boppré: Unsere Sammlung beherbergt Belegexemplare von Forschungsprojekten. Sie ist also keine Sammlung zum Selbstzweck, wie sie früher von Hobbyisten erstellt wurde. Forschungsbezogene Sammlungen sind heute so wichtig wie vor 100 Jahren. Wir wissen noch lange nicht, welchen Reichtum an Arten wir weltweit haben. Wir stecken Insekten nicht nur auf Nadeln in Kästen, sondern untersuchen ihre Morphologie im mikroskopischen Bereich.

Was genau heißt das?

Wir studieren Strukturen zu ihrer inner- und zwischenartlichen Verständigung und gewinnen somit Informationen über ihre Lebensweise. Es gibt zudem jede Menge kleine und unscheinbare Insekten, die ökologisch eine große Rolle spielen, die jedoch Laien niemals zu Gesicht bekommen. Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sammeln und töten also mit großem Respekt. Nur was wir kennen, können wir schützen.

Im Internet finden sich viele Angebote, so genannte Schmetterlingshäuser zu besuchen, sozusagen als Freizeitspaß für die ganze Familie. Wie zeitgemäß ist das?

Prinzipiell sind Schmetterlingshäuser sehr zeitgemäß. Sie vermitteln Jung und Alt einen direkten Kontakt zu lebenden Insekten. Die Häuser importieren Puppen von Schmetterlingen, die sie von Züchtern aus den Tropen beziehen, und stellen die adulten Falter aus. Die Insekten sind also nicht in der Wildnis gefangen. Wenn sich die Halterinnen und Halter artgerecht um die Tiere kümmern, sind Schmetterlingshäuser wegen ihres erzieherischen Werts durchaus gerechtfertigt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sie nicht nur Falter zeigen, sondern auch über deren Biologien, die Insektenbiodiversität sowie den Naturschutz aufklären.

Wieso ist es erfahrungsgemäß schwierig, Insekten zu halten?

Insekten verzeihen keine schlechte Haltung. Hat ein Huhn wenig Platz, legt es trotzdem Eier. Insekten sind wesentlich anspruchsvoller als Wirbeltiere, sie benötigen spezielle Nahrung, eine bestimmte Temperatur und Luftfeuchtigkeit, auch spezifische Licht- und Platzverhältnisse. Das macht die Zucht in größerem Umfang sehr aufwendig und damit teuer. Eine Massenproduktion ist für die allermeisten Arten gar nicht möglich, was an der Biologie der Insekten liegt. Diese wird oft nicht verstanden.

„Insekten verzeihen keine schlechte Haltung“, sagt Michael Boppré. Foto: Ingeborg F. Lehmann

Trotzdem ist – auch in Europa – immer mehr die Rede von Insekten als Nahrungsmittel. Im Supermarkt gibt es schon mit Insektenpulver angereicherte Müsliriegel.

Gerade, weil es so schwierig ist, Insekten zu züchten, kommen sie als Grundnahrungsmittel nicht in Frage. Sie sind allerdings, und das schon seit Jahrtausenden, eine gute Zusatznahrung. Wenn in Asien Wespennester ausgenommen und die Larven verspeist werden, ist das mit unserem Sonntagsbraten zu vergleichen. Insekten können nachhaltig aber nur begrenzt der Natur entnommen werden. Die allermeisten Arten können in Gefangenschaft nicht gezüchtet werden, erst recht nicht in Mengen, die als Grundnahrungsmittel notwendig wären. Kommende Hungerkrisen werden wir also nicht mithilfe der Insekten lösen können, obwohl sie im Vergleich zu Wirbeltieren wesentlich umweltfreundlichere Proteinlieferanten sind.

Wenn es um das Insektensterben geht, ist auch schnell von Pestiziden die Rede. Welche Rolle spielen sie?

Wir verändern Ökosysteme massiv und nehmen damit Pflanzen und Tieren den Lebensraum, also ihre Existenzgrundlage. Bei unserer großflächigen Landnutzung fördern wir einige wenige Kulturpflanzen, und das schadet allen Wildpflanzen. Gleichzeitig fördern wir die wenigen, an unsere Kulturpflanzen angepassten Insektenarten. Sie bilden riesige, aus unserer Sicht schädliche Populationen. Ich kann die Landwirtinnen und Landwirte verstehen, die um ihre Erträge fürchten und daher auf dem Einsatz von Pestiziden bestehen. Sie müssen Schadpopulationen, die sie selbst provozieren, reduzieren. Biologisch betrachtet ist ein Maisfeld außer für den unbeabsichtigt geförderten Maiszünsler, einige Läuse und wenige Gegenspieler tot. Auf großen Feldern ausgebrachte Insektizide könnten also anderen Organismen gar nicht schaden, wenn sie nicht auch verfrachtet und anhaltend wirksam bleiben würden. Wir dürfen nicht annehmen, dass allein mit Pestizidverboten das beobachtete Insektensterben beendet werden könnte.

Was ist demnach zu tun?

Wir müssen Pflanzen, Insekten und somit allen anderen Tieren eine Existenzgrundlage in Form von diversen Lebensräumen lassen. Nur die Bereitstellung von Flächen mit natürlicher Vielfalt kann Organismen erhalten und retten, qualitativ wie quantitativ. Landnutzung durch den Menschen darf ein umweltverträgliches Maß nicht überschreiten, aber das tut es inzwischen oft. Wenn ich auf einem Acker vor Ebnet ein riesiges Plakat mit der Aufschrift „Flächenverbrauch bedroht die Landwirtschaft“ lese, merke ich, dass ökologische Zusammenhänge noch immer nicht verstanden sind. Wir brauchen wieder mehr Naturräume; Diskussionen um Blühstreifen, Insektenhotels und Pestizide sind durchaus wichtig, der Kern des Problems jedoch sind Naturräume. Wir müssen unsere Umwelt ganzheitlich betrachten und nicht nur in kleinen Ausschnitten.

Warum dienen immer Bienen als Beispiel für eine verfehlte Agrarwirtschaft?

Unsere Vorfahren haben die Honigbiene zum Haustier gemacht, und heute sind wir von ihrer Leistung als Bestäuber abhängig. Industrielle Obstplantagen könnten niemals von natürlichen Insektenpopulationen bestäubt werden. Von einem anthropozentrischen Blickwinkel betrachtet sind der Schutz und die Förderung von Honigbienen essenziell. Bezüglich ihrer Biologie sind die Tiere keine typischen Insekten; Bienenförderung bedeutet daher nicht Insektenförderung. Ökologisch betrachtet kann man sogar auf die Idee kommen, dass Bienen für die Insektenvielfalt möglicherweise schädlich sind, denn außerhalb der Plantagen machen sie anderen Insekten, die ebenfalls auf Pollen und Nektar angewiesen sind, die Nahrung streitig. Wir dürfen nicht nur an unsere Ansprüche denken, sondern auch an die unserer Mitlebewesen. Wir müssen Kompromisse suchen.

In einem Buchbeitrag regten Sie kürzlich an, eine „Insect Welfare Charter“ zu erarbeiten, also eine Handreichung zum Wohlergehen von Insekten. Wie sollte diese aussehen?

Sie kann nicht von Wissenschaftlern alleine formuliert werden, es muss ein gesellschaftlicher Diskurs darüber begonnen werden, wie wir Insekten insgesamt betrachten und bewerten. Meines Erachtens geht es vor allem darum, die weit verbreitete, rein anthropozentrische Sichtweise mit Grundlagen der Ökologie zu versöhnen. Wenn wir Insekten mit mehr Respekt begegnen würden, wäre schon mal ein großer Schritt getan.