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Es lebe die Demonstration

Eine Ausstellung im Uniseum beleuchtet den „alternativen“ Alltag im Freiburg der 1970er Jahre

Freiburg, 08.07.2019

Es lebe die Demonstration

Foto: Willy Pragher/Staatsarchiv Freiburg W134 Nr. 104109d Bild 1

Sit-ins gegen Fahrpreiserhöhungen am Bertoldsbrunnen, revolutionär gestimmte WGs in „instandbesetzten“ Häusern, antiautoritäre Erziehung in Kinderläden, Frauenbewegung und lila Latzhosen, dazu einschlägige Literatur bei Jos Fritz und schräge Töne von der klassenkämpferischen Blaskapelle Rote Note: Das alles kennzeichnet in den unruhigen Jahren von 1968 bis 1983 die alternative Szene in Freiburg. Eine Ausstellung, die Studierende des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie unter Leitung von Dr. Johannes Müske kuratiert haben, zeigt im Uniseum, wie sich der gesellschaftliche Wandel in den „langen 1970ern“ in der Stadt manifestierte.

Demonstration am Bertoldsbrunnen gegen Spanien aus dem Jahr 1975.
Foto: Willy Pragher/Staatsarchiv Freiburg W134 Nr. 104109d Bild 1

Kreative Protestformen – mit Schlafsack, Megafon und Trompete

Geplante Fahrpreiserhöhungen lösten 1968 in Freiburg die ersten Großdemonstrationen aus. Schüler, Studenten und Rentner protestierten gemeinsam gegen die Verteuerung des Nahverkehrs. „Zum ersten Mal gingen die Menschen in Freiburg in so großen Mengen auf die Straße“, sagt Kerstin Huber, die das Thema für die Ausstellung erarbeitet hat. Bei den Kundgebungen kam es zum ersten Einsatz von Wasserwerfern in Baden-Württemberg. Es war der Auftakt zu zahllosen Aktionen, die Freiburg in den 1970er Jahren immer wieder in Atem hielt: Leerstehende Häuser wurden besetzt und gegen Räumungsversuche verteidigt, Theaterstücke auf der Straße aufgeführt, fantasievolle Plakate entworfen. Zu vielen Kundgebungen spielte die Rote Note auf, die als erste alternative Blaskapelle Westdeutschlands 1973 in Freiburg gegründet wurde.

Kristallisationsthema der Protestbewegung wurde das in Wyhl am Kaiserstuhl geplante Kernkraftwerk – das erste, das durch Bürgerprotest verhindert wurde. Der Widerstand dagegen vereinte Linke und Intellektuelle aus Freiburg mit konservativer eingestellten Winzern und Landwirten vom Kaiserstuhl sowie mit Atomkraftgegnern aus dem Elsass und aus der Schweiz. Nach monatelangen Bauplatzbesetzungen 1975 und jahrelangen Gerichtsverfahren wurde das Vorhaben schließlich 1983 politisch aufgegeben. „Wyhl wurde eine Art Blaupause für spätere Anti-Atomkraftaktionen und ist in die DNA der Ökobewegung und der daraus entstandenen Grünen-Partei eingegangen“, sagt Sven Hübschen, der in der Projektgruppe dieses Thema bearbeitete.

Diskofieber, Plattenspieler und Anleitung zur Aerobic: eine paar Kultobjekte aus den 1970er Jahren. Foto: Ingeborg F. Lehmann

Alternativen im Alltag – vom Rumhängen, Selbermachen und anders Lernen

Die Dinge anders machen als es die etablierte Ordnung vorsah: Darum ging es in der alternativen Szene in den 1970er Jahren auch im eigenen Alltag. Sich anders kleiden, sich anders einrichten gehörten dazu, mit der Do-it-yourself-Bewegung – Stichwort: Möbel selbst bauen – und Unisex-Klamotten. „Das ist ein schleichendes Thema ohne feste Daten wie bei den großen Demos. Es durchzog dann aber doch den Alltag“, sagt Nanna Knaup, die die Kleidung dieser Zeit unter die Lupe genommen hat. „Der Lebensstil war eine kreative Form des Protests.“ Gegen Überkommenes im Schulwesen erhob sich die Reformpädagogik. „Man wollte eben alles infrage stellen, auch die Schule“, sagt Analisa Cresso, die sich in dem Lehrforschungsprojekt insbesondere mit der Freien Waldorfschule befasste. Diese wurde 1973 im Freiburger Stadtteil Sankt Georgen gegründet, nachdem die bereits bestehende Waldorfschule im Viertel Wiehre wegen des großen Ansturms aus allen Nähten platzte. Provozierend unangepasst erschienen dem Establishment die Gammlerinnen und Gammler – auch sie wollten eine andere Lebensanschauung zum Ausdruck bringen: Sie lebten vorsätzliches Nichtstun im öffentlichen Raum und forderten bürgerliche Vorstellungen sowohl durch das „Rumhängen“ als auch durch fantasievolles bis verwahrlostes Äußeres heraus. Auch dieses Phänomen wird in der Ausstellung beleuchtet.

Neue Soziale Bewegungen – zwischen Kinderladen, Latzhose und Friedenstaube

Die Abkehr vom Hergebrachten in Kultur und Politik führte zu den Neuen Sozialen Bewegungen, die sich um die großen Themen wie Demokratie, Gleichberechtigung, Gesellschaftskritik und Umwelt bildeten. Die Neue Frauenbewegung stieß die Debatte um die Rolle der Frau in der Gesellschaft an. „Das war nicht so revolutionär und wütend wie 1968, sondern eher ein Austausch mit Gleichgesinnten um die Frage ‚Was ist für mein eigenes Leben wichtig?‘“, erläutert Alexander Kollecker aus der Studiengruppe. Frauennetzwerke seien unter anderem in den Kinderläden entstanden. Diese Einrichtungen waren als Gegenentwurf zu den herkömmlichen Kindergärten gegründet worden, um durch antiautoritäre Erziehung schon den Kleinen andere Rollenverständnisse und Verhaltensmuster nahezubringen. Zum alles übergreifenden Thema der Neuen Sozialen Bewegungen wurde Mitte des Jahrzehnts die Friedensbewegung, die sich bundesweit organisierte und die 1981 mit der Mobilisierung von 350.000 Demonstrantinnen und Demonstranten gegen den NATO-Doppelbeschluss in Bonn ihren Höhepunkt erlebte. Die Friedensbewegung ist, ebenso wie die Frauenbewegung, bis heute in Freiburg aktiv.

Rund und bunt: Die Studierenden haben eine Litfaßsäule gebaut, an der sie Fotos, Flugblätter und Plakate aus den 1970er Jahren anschlagen. Foto: Ingeborg F. Lehmann

Szenen und populäre Orte – von Flugblatt, Filmrolle und Diskokugel

Die alternative Szene hatte ihre eigenen Treffpunkte – „Räume, in denen die Leute zusammenkamen und sich organisierten“, so Laura Steinhaus, die zusammen mit Franziska Tacke und Melissa Fischer die Orte untersucht hat, an denen die Alternativen debattierten, Bücher kauften, Filme ansahen oder tanzten. Es gab einen „Arbeitskreis alternative Kultur“ und eine „Medienwerkstatt“, wo man sich mit neuen Kommunikationsplattformen befasste. Ein prominentes Freiburger Beispiel ist Radio Dreyeckland, das älteste freie Radio Deutschlands, das 1977 als Piratensender gegen das elsässische Kernkraftwerk Fessenheim den Betrieb aufnahm. Zwei Jahre zuvor war die Buchhandlung Jos Fritz eröffnet worden. Dort konnte man linke Literatur und Werke der Gegenkultur finden und auch gleich in der angeschlossenen Druckerei Flugblätter und Plakate für die nächste Demo drucken. Den Buchladen an der Wilhelmstraße und den freien Radiosender gibt es noch immer, ebenso wie das 1972 gegründete Kommunale Kino (KoKi) in der Wiehre, das nicht gewerblich arbeitet und Filme aufs Programm setzt, die man anderswo vergebens sucht. „Die alternativen Einrichtungen entstanden aus der Unzufriedenheit mit dem status quo, man wollte andere Wege gehen“, sagt Franziska Tacke, die sich mit der Geschichte des Koki befasst hat. Wenig politisches Bewusstsein verlangte demgegenüber die Discokultur, doch auch sie war innovativ und bot mit ihrer Musik und ihren Tanzstilen einen Raum, der von manchen Alternativen gerne angenommen, von anderen allerdings prinzipiell abgelehnt wurde. Die meisten der damals angesagten Discos und Szenekneipen sind mittlerweile dem Clubsterben in Freiburg anheimgefallen.

Verena Adt

 

Die Ausstellung besuchen

Die Ausstellung „Freiburg in den langen Siebzigern – Facetten einer Stadt im Wandel“ ist vom 19. Juli bis zum 14. September 2019 im Uniseum, Bertoldstraße 17, zu sehen. Das Uniseum ist von Donnerstag bis Samstag jeweils von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Führungen gibt es samstags zwischen dem 3. August und dem 14. September jeweils um 15 Uhr. Der Eintritt ist kostenlos. Am 12. September findet um 19 Uhr eine Gesprächsrunde mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zum Thema „Freiburg in den langen Siebzigern – und heute?“ statt.

Programm und weitere Informationen