Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin lehren & lernen Man nehme Sand und Pixel – …

Man nehme Sand und Pixel – fertig sind die Gipfel

Laborexperimente und Softwaremodelle helfen Studierenden der Geowissenschaften dabei, die Entstehung von Gebirgen besser zu verstehen

Freiburg, 06.11.2018

Man nehme Sand und Pixel – fertig sind die Gipfel

Foto: Jürgen Gocke

Ob Alpen, Anden, Rocky Mountains, Ural oder Himalaya: Gebirge sind ein überwältigendes Naturereignis. Die Gebilde sind über Jahrmillionen entstanden – doch wie eigentlich? Mit einer neu entwickelten Lehrveranstaltung will Prof. Dr. Thomas Kenkmann seinen Studierenden ein tiefgreifendes Verständnis der komplexen geologischen Prozesse vermitteln. Die angehenden Geologinnen und Geologen müssen ordentlich anpacken: Im Labor erzeugen sie etwa aus Sand, Glasperlen und Schmirgelpapier eigene Gebirge und simulieren mit einem Computerprogramm verschiedene Modelle der Gebirgsbildung.


Dreidimensionales Daumenkino: Die Software simuliert verschiedene Modelle der Gebirgsbildung. Foto: Jürgen Gocke

Als die Sponti-Bewegung vor 50 Jahren „Weg mit dem Watzmann, freie Sicht auf die Adria!“ forderte, lag der Witz darin, dass Gebirge gemeinhin als Inbegriff der Unverrückbarkeit gelten. Nicht so für Geologen. Wenn sie auf die Alpen schauen, sehen sie ein höchst komplexes, dynamisches Gebilde, das entsteht, wenn sich Kontinentalplatten aufeinander zubewegen. Das Problem an der Dynamik von Gebirgen ist, dass sie sehr langsam vonstattengeht. Geschwindigkeiten von etwa einem Zentimeter pro Jahr, die sich über Jahrmillionen hinziehen, sind in freier Gesteinsbahn schlecht zu verfolgen.

Die Geologie behilft sich damit, vorhandene Gesteinsformationen wie Momentaufnahmen eines sehr langsamen, aber unerbittlichen Auffahrunfalls zu deuten. Thomas Kenkmann vom Institut für Geowissenschaften der Universität Freiburg erläutert das an einem geologischen Querschnittsprofil des Alpenraums vom Jura bis zur Poebene. Das zeige sehr schön, wie die europäische Kontinentalplatte unter die afrikanische rauscht und die oberen Gesteinsschichten von Norden her auf einen festen Keil auflaufen und dabei an der Knautschzone diese bizarren Verformungsmuster bilden, die man als Alpen kennt.


Mithilfe von unterschiedlichen Glasperlen, die jeweils einer Gesteinsschicht entsprechen, erzeugt Bennet Schuster im Modellversuch ein kleines Gebirge. Foto: Jürgen Gocke

Kenkmann ist es ein Anliegen, seinen Studierenden die zugrundeliegenden Vorgänge nicht nur an einem statischen zweidimensionalen Schema, sondern auch in ihrer Dynamik möglichst anschaulich verständlich zu machen. Aus diesem Grund hat er die Lehrveranstaltung „Gebirgsbildung im Labor und am Computer“ erarbeitet, die Studierende in vier Stufen zu einem tiefgreifenden Verständnis der komplexen geologischen Prozesse bei der Bildung von Gebirgen führen soll.

Glasperlen, Mehl und Sand

Eine herkömmliche theoretische Einführung in die Grundlagen bleibt unerlässlich, aber bereits im zweiten Schritt werden die Studierenden selbst aktiv, und zwar indem sie im Labor ihre eigenen Gebirge erzeugen. Um zu zeigen, wie das funktioniert, haben die wissenschaftlichen Hilfskräfte Bennet Schuster und Lois Mae Mayer ein Experiment im Labor vorbereitet. In einer balkenförmigen, hohlen Plexiglaskonstruktion werden auf ein einfaches, per Handkurbel betriebenes und mit Schmirgelpapier belegtes Förderband verschiedene Gesteinsschichten aufgetragen.

Um die unterschiedlichen Eigenschaften der jeweiligen Schichten zu simulieren, verwendet Schuster Glasperlen unterschiedlicher Körnung, die eigentlich für das Schleifen mit Strahlgebläsen gedacht sind. „Wir könnten aber auch Sand oder Mehl verwenden“, ergänzt Kenkmann. „Wichtig ist, dass das verwendete Material in seinen Eigenschaften so skalierbar ist, dass es der entsprechenden Gesteinsschicht im realen Gebirge entspricht.“


Der mit einer Kamera gefilmte Modellversuch zeigt, wie sich die Gesteinsschichten bei der Gebirgsbildung verschieben. Foto: Jürgen Gocke

Inzwischen hat Schuster eine Kamera aufgebaut, um das Experiment zu dokumentieren, während Mayer damit beginnt, das Förderband zu kurbeln und die verschieden gefärbten Glasperlen auf einen Halfpipe-förmigen Keil auflaufen zu lassen. Was erdgeschichtlich Jahrmillionen dauert, wird dadurch auf Sekunden komprimiert. Deutlich ist zu erkennen, wie sich Plateaus bilden und Bruchkanten entstehen, deren Ähnlichkeit mit entsprechenden Abbruchkanten im Gebirge frappierend ist.

Nach einer Einführung, wie die durch diese tektonische Analogmodellierung erzeugten Profile quantitativ bilanziert werden können, untersuchen die Studierenden in kleinen Teams verschiedene Fragestellungen: Welche Rolle spielt die Kollisionsgeschwindigkeit? Welchen Effekt hat die Erosion? Um Letztere zu simulieren, greifen die Studierenden auch gern mal zum Staubsauger. Die von der Kamera vermessenen Laborgebirge liefern in einem dritten Schritt die Daten, um damit ein Simulationsprogramm zu füttern.


Thomas Kenkmann hat die Lehrveranstaltung „Gebirgsbildung im Labor und am Computer“ erarbeitet. Foto: Jürgen Gocke

Von der Lowtech zur Hightech

Für diesen Schritt von der Lowtech des Sandkastens zur Hightech des Rechners kommt im Wintersemester 2018/19 erstmals das Softwarepaket MOVE™ der schottischen Firma Petroleum Experts (Petex) zum Einsatz. „Die Nutzung dieser Profi-Software ist nur möglich, weil Petex uns die Lizenzgebühren von 1,308 Millionen Pfund Sterling jährlich erlässt“, freut sich Kenkmann – die Firma unterstützt die Lehre in der Freiburger Geologie also mit umgerechnet 1,45 Millionen Euro. Unterdessen veranschaulicht Kenkmanns wissenschaftlicher Assistent Dr. Michael Poelchau am Bildschirm, wie man Modelle der Gebirgsbildung wie ein dreidimensionales, animiertes „Daumenkino“ beliebig vorwärts und rückwärts laufen lassen kann.

Für die Studierenden hat die neue Simulationssoftware den Vorteil, sich frühzeitig mit einem Werkzeug vertraut zu machen, das für das spätere Berufsleben von Bedeutung ist. Die Studierenden zeigen sich von der Möglichkeit begeistert, im Zusammenspiel von Low- und Hightech-Gebirgsbildung eigenständig simulieren zu können. Der Lerneffekt sei nachhaltig. Entscheidend aber bleibt nach wie vor der Abgleich mit der Realität: die Exkursion in die Berge. Dort zeigt sich, inwieweit die in Experiment und Simulation gewonnenen Erkenntnisse den Studierenden dabei helfen, Strukturen realer Gebirge kompetenter zu interpretieren.

Jürgen Reuß