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„Menschenfeindlichkeit werden wir nicht akzeptieren“

Wie Judaistik und Islamwissenschaft an der Universität Freiburg gemeinsam antisemitischen Ressentiments in der Gesellschaft entgegenwirken wollen

Freiburg, 26.03.2018

„Menschenfeindlichkeit werden wir nicht akzeptieren“

Foto: Lassedesignen/Fotolia

Im Januar 2018 hat der deutsche Bundestag einen Antrag zum wirkungsvolleren Kampf gegen Antisemitismus beschlossen – eine Reaktion darauf, dass sich Vorbehalte und Stereotype, die gegen Juden und gegen Israel gerichtet sind, hierzulande mehren. Wie ist die Situation an der Universität Freiburg und insbesondere am Orientalischen Seminar? Prof. Dr. Gabrielle Oberhänsli-Widmer aus der Judaistik sowie Prof. Dr. Johanna Pink und Prof. Dr. Tim Epkenhans aus der Islamwissenschaft erklären im Gespräch mit Nicolas Scherger, welche fächerübergreifenden Projekte sie planen, um dem Antisemitismus gemeinsam die Stirn zu bieten.

Foto: Lassedesignen/Fotolia

Frau Oberhänsli-Widmer, Frau Pink, Herr Epkenhans, beobachten Sie eine Zunahme antisemitischer Tendenzen in der Gesellschaft?

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Ganz eindeutig ja, und zwar nicht nur hierzulande. In der Schweiz ist es im vergangenen Jahr ganz extrem geworden, sodass der Staat jetzt Geld bereitstellt, um die Juden zu schützen. Frankreich wird von so vielen Juden verlassen, dass Israel von dort in den vergangenen beiden Jahren die größten Einwanderungszahlen verzeichnet hat. Das war zuvor nie der Fall. 

Johanna Pink: Die Islam-Debatte in Deutschland offenbart zu dem Thema ein ambivalentes Verhältnis. Auf der einen Seite gibt es einen Bereich der Islamkritik, der sich Israel-Freundschaft auf die Fahnen schreibt und gegen Muslime polemisiert, die angeblich Antisemitismus nach Deutschland bringen. Auf der anderen Seite nutzt ein Teil der Islamkritik das Thema, um menschenfeindliche Aussagen unter dem Label „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ gesellschaftsfähig zu machen. Das äußert sich zunehmend auch darin, dass gegen Juden und gegen Israel gehetzt wird – zum Beispiel in Verschwörungstheorien, in denen auf einmal wieder das „reiche Finanzjudentum“ vorkommt. Das nimmt eindeutig zu.

Aus welchen Richtungen kommen diese Stimmen?

Johanna Pink: Zum einen ganz klar aus dem rechtsextremen Umfeld. Zum anderen gibt es auch einen muslimischen Antisemitismus – nicht unter allen muslimischen Gemeinschaften in Deutschland, aber in einem Segment ist er auf jeden Fall da.

Tim Epkenhans: Viele Menschen mit  Migrationshintergrund kommen aus autoritären Staaten, in denen der Antizionismus – die Kritik am Staat Israel und an der Besetzung der palästinensischen Gebiete – zwar oft vom Antisemitismus getrennt wird, aber letztlich benutzen viele dieser Regime im Nahen und Mittleren Osten zur Legitimation ihres Handelns auch eindeutig antisemitische Bilder. Diese Prägung bringen viele Migrantinnen und Migranten mit, und da muss ein Lernprozess mit dem Resultat stattfinden, dass das in unserem Kontext nicht akzeptabel ist.

Johanna Pink: Zum Beispiel ist es üblich, den Holocaust zu leugnen: als zionistische Erfindung, die Israel legitimieren und die Juden zu Opfern machen soll. Diese Erzählung wird im Nahen Osten auch von Regierungen und in Schulen verbreitet. Nun kommen Menschen aus solchen Ländern in Deutschland in eine Gesellschaft, die ihre Geschichte stark über die Vergangenheit des Dritten Reichs definiert und wo es als Volksverhetzung gilt, den Holocaust anzuzweifeln. Das prallt aufeinander, und entsprechend wichtig ist es, mit Bildungsangeboten entgegenzuwirken. Aber viel beunruhigender finde ich, dass man antisemitische Aussagen auch aus der bürgerlichen Mitte hört.

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Neben den Neonazis gibt es auch eine Israelkritik von links. Und die Annahme, dass der Antisemitismus 1945 tatsächlich weg war, ist aus psychologischer Sicht unsinnig. Man hat natürlich über die Schoah, den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden, sehr viel Schuld auf Deutschland geladen. Nach dem Krieg hat Deutschland viel an Wiedergutmachung geleistet. Aber das führt ja nicht automatisch zu einem besseren Verhältnis zum Judentum. In der Medienwissenschaft gibt es das Modell der Schweigespirale: Solange man das Gefühl hat, man ist in der Minderheit und es gibt ein Tabu, sagt man nichts – man will sich ja nicht unbeliebt machen.  Aber sobald das kippt, mehren sich die Stimmen, und dann kommen eben solche Antisemitismen wieder. Dabei spielen auch die sozialen Medien eine Rolle, in denen man sich ungefiltert äußern kann. Das enthemmt und vermengt sich zu einem ganz unguten Brei.

Viele autoritäre Regime im Nahen und Mittleren Osten nutzen zur Legitimation ihres Handelns eindeutig antisemitische Bilder, sagt Tim Epkenhans.
Foto: Jürgen Gocke

Welche Rolle spielt dabei der stockende Friedensprozess im Nahen Osten?

Tim Epkenhans: Das spielt schon mit hinein, aber der klassische Nahostkonflikt – also die zentrale Auseinandersetzung zwischen Israel einerseits, seinen Nachbarn und den Palästinensern andererseits –  ist in den vergangenen Jahren stark überdeckt worden: vom Aufstieg des „Islamischen Staates“ oder dem so genannten Arabischen Frühling. Teilweise entstehen Allianzen, die aus historischer Perspektive seltsam anmuten, etwa die USA, Israel und Saudi-Arabien gegen den Iran und das syrische Regime. Gleichzeitig wird Stimmungsmache betrieben: Wenn beispielsweise US-Präsident Donald Trump verkündet, die Botschaft seines Landes nach Jerusalem zu verlegen und damit Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennt, nutzen das politische Führer in der islamischen Welt für ihre innenpolitischen Zwecke – etwa der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der nicht zuletzt auch türkischstämmige Migrantinnen und Migranten in Deutschland beeinflussen will.

Johanna Pink: Das erklärt vielleicht auch, warum dieses Thema symbolisch so hoch aufgehängt ist. Man kann ja durchaus unterschiedlicher Ansicht über die israelische Siedlungspolitik sein, aber man findet bei Muslimen, die gar nicht unmittelbar von dem Konflikt betroffen sind, eine Identifikation mit den Palästinensern in einem Maße, die jede Identifikation mit anderen verfolgten muslimischen Gruppen weit übersteigt. Dieser symbolische Wert wird dem Thema von autoritären Regimen und religiösen Strömungen zugewiesen, und natürlich hilft es diesen Akteurinnen und Akteuren, dass der Nahostkonflikt nicht vom Fleck kommt. Wenn es einen Friedensprozess gäbe, der auf beiden Seiten Fortschritte beinhalten würde, wäre es schwieriger, Feindbilder aufrecht zu erhalten. Da aber keiner weiß, wie die Lösung aussehen soll, und nach Wahrnehmung beider Lager auf der jeweils anderen Seite fortlaufend Gewalt verübt wird, wird das Verschwörungsdenken weiter vorangetrieben.

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Was mich beunruhigt, sind die „kleinen Akteure“. Wir hatten 2017 ein Seminar über den israelischen Schriftsteller und Friedensaktivisten David Grossman, der in Israel als Linker gilt. Er spricht mit den Palästinensern, reist in die Westbank, besucht Kindergärten und Schulen. Die Lehrbücher sind dort ein großes Problem, weil die jungen Menschen daraus ihre Erstinformationen bekommen. Später fällt es dann schwer, gegen die Verschwörungstheorien über die „bösen Juden, die das weltweite Finanzwesen und die Medien beherrschen“, noch anzukommen. David Grossman nennt diese Kinder „süße, kleine, tickende Zeitbomben“ – weil sie indoktriniert sind.

Antisemitische Provokationen kommen auch an der Universität Freiburg vor – aber die große Mehrheit der Studierenden grenzt sich massiv davon ab, berichtet Johanna Pink.
Foto: Jürgen Gocke

Ist das Thema Antisemitismus auch schon an der Universität Freiburg angekommen?

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: In unseren Lehrveranstaltungen ist das natürlich schon ein Thema, zum Beispiel in meinen Seminaren zu zeitgenössischer israelischer Literatur.

Tim Epkenhans: Die Universität ist ein Abbild der Gesellschaft, und entsprechend kommen Studierende mit verschiedenen Auffassungen in die Kurse und Seminare. Wenn wir uns die größeren gesellschaftspolitischen Debatten in den vergangenen 15, 20 Jahren anschauen, ist dieses „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ im intellektuellen Raum angekommen – und damit auch an der Universität. Darauf müssen wir Antworten finden.

Johanna Pink: Wir können uns natürlich nicht vor Einzelpersonen schützen – dass zum Beispiel auch mal Personen mit salafistischen oder anderen problematischen Weltbildern an die Universität kommen und gar kein Interesse daran haben, sich Themen kritisch zu erarbeiten, sondern ihre vorgefertigten Überzeugungen verbreiten möchten. Solche Provokationen gibt es immer mal wieder, aber die große Mehrheit der Studierenden grenzt sich massiv von diesen Leuten ab. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unsere Studierenden einen Raum haben, in dem sie so aufgeschlossen und kritisch arbeiten können, wie sie das möchten.

Welchen gemeinsamen Beitrag könnten Islamwissenschaft und Judaistik dazu leisten?

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Wir haben als Seminar die wichtige Aufgabe, dass wir uns überhaupt kennenlernen. Bei uns an der Universität gibt es Juden, Muslime und Christen, und das muss man sich einfach bewusst machen. Deshalb wollen wir zusammenarbeiten, und es ist gut, dass unsere Fachschaften viel in diese Richtung unternehmen. Es gab zum Beispiel eine gemeinsame Veranstaltungsreihe, bei der sich die Studierenden israelische und palästinensische Filme angeschaut haben. Außerdem habe sie vorgeschlagen, dass wir gemeinsame Lehrveranstaltungen der Judaistik und der Islamwissenschaften anbieten. Das werden wir im Wintersemester 2018/19 umsetzen – vielleicht ein Seminar oder eine Ringvorlesung.

Tim Epkenhans: Wir werden im Frühjahr das Format festlegen, mit der Planung beginnen und die Fachschaften einbinden, damit wir erfahren, welche Erwartungen die Studierenden an eine solche Veranstaltung haben. Wir haben zum Glück zwei sehr aktive Fachschaften, die sich gut verstehen und eng zusammenarbeiten. Wenn es darum geht, den öffentlichen Raum nicht dem Hass zu überlassen, sind sie wichtige Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die in die Universität hinein wirken können. Wir sehen in allen Arbeitsbereichen der Universität, dass ein klarer Konsens herrscht: Menschenfeindlichkeit werden wir nicht akzeptieren.

Ein wichtiges Anliegen der Judaistik ist, den Reichtum der jüdischen Kultur sowie ihren Einfluss auf Islam und Christentum zu zeigen, betont Gabrielle Oberhänsli-Widmer.
Foto: Jürgen Gocke

Welche Inhalte wird die Lehrveranstaltung thematisieren?

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Seit 1945 wurde Judentum über die Schoah vermittelt, es ist also immer eine Geschichte der Verfolgung und Zerstörung. Das ist auch Aufgabe des Fachs Geschichte, aber wir in der Judaistik wollen etwas anderes zeigen: den Reichtum der Kultur, ihren Einfluss auf Islam und Christentum. Ein einfaches Beispiel: Wir haben am Sonntag einen Tag in der Woche frei – das kommt vom Schabbat. Judentum, Christentum und Islam haben auch einen ähnlichen Ansatz in der Auslegung der Heiligen Texte – ob Talmud, Bibel oder Koran. An solchen Gemeinsamkeiten können wir ansetzen. Ich glaube, es ist auch nicht mehr präsent, dass Juden und Muslime bis 1948 gut zusammengelebt haben und erst die Staatsgründung Israels den großen Bruch bewirkt hat.

Tim Epkenhans: Das Zusammenleben der Religionen im Nahen Osten war eben nicht immer nur konfliktreich, ganz im Gegenteil: Die Interaktion und Vermischung  hat über Jahrhunderte hinweg eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der regionalen Hochkultur gespielt. Das sollten wir deutlich hervorheben.

Gibt es mittelfristig vielleicht sogar noch weitreichendere Pläne?

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Wir planen einen Masterstudiengang über monotheistische Religionen – als Kooperation von Islamwissenschaften, Katholischer Theologie und Judaistik. Das wäre langfristig sinnvoll, weil ich mich immer frage, wer eigentlich später in der Schule Islam und Judentum unterrichten soll.

Johanna Pink: An diesem Punkt ist Deutschland noch nicht in der Migrationsgesellschaft angekommen. Das Wissen, das im konfessionellen Religionsunterricht über nicht-christliche Religionen vermittelt wird, ist bestenfalls oberflächlich und oft sehr exotisierend, nach dem Motto: „Ihr seht schon, das ist alles ein bisschen merkwürdig.“ Wenn von Schülerinnen und Schülern der Wunsch kommt, etwas über den Islam zu erfahren, kennen sich die Lehrerinnen und Lehrer oft nicht gut genug damit aus. Hinzu kommt, dass es in Deutschland einen hohen Anteil an Religionslosen gibt, die in der Regel überhaupt nicht in den Religionsunterricht gehen. Es ist natürlich viel leichter, antisemitische Stereotypen und Verschwörungstheorien zu hegen, wenn man nie mit Juden in Kontakt gekommen ist und nie etwas Realistisches darüber gelernt hat.

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Dem sollte der Masterstudiengang entgegenwirken: Wir wollen Religionswissenschaftlerinnen  und Religionswissenschaftler ausbilden, die dann wiederum in die Schulen wirken können – dort findet schließlich die Erstinformation unserer Kinder statt. Jetzt kommt mein helvetischer Patriotismus: In der Schweiz gibt es schon lange das Fach „Ethik und Religion“, das religionsneutral von Religionswissenschaftlern vermittelt wird. Entsprechend gibt es das Fach schon lange an der Universität.

Es ist sicher sinnvoll, an den Schulen anzusetzen, damit Kinder keine Stereotypen ausbilden – aber kann man auch diejenigen, die schon antisemitisch geprägt sind, noch beeinflussen?

Johanna Pink: Die mit geschlossenem Weltbild – Rechts- und Linksextreme ebenso wie muslimisch geprägte Ideologinnen und Ideologen – erreicht man wahrscheinlich selten, weil sie den Holocaust ebenso wie jedes historische Argument als Erfindung der „zionistischen Presse“ abtun. Aber dann gibt es viele, die vage, unreflektierte Stereotypen haben, weil sie vielleicht in einem Umfeld aufgewachsen sind, in dem niemand diese Vorurteile infrage gestellt hat. Wir beobachten bei Veranstaltungen im Studium generale am Beispiel des Themas Islamkritik, dass viele Leute kommen, die aktuelle Debatten verfolgen und oft diffuse Sorgen und Ängste haben. Sie sind aber zugleich offen und wollen etwas lernen. Von diesen Menschen bekommen wir immer wieder das Feedback: „Das war aber interessant, das hat mich zum Nachdenken gebracht und mir eine neue Perspektive eröffnet.“ Das ist bei einem großen Teil der Bevölkerung schon möglich.

Ist es auch eine Generationenfrage, wie Menschen dem Thema Antisemitismus begegnen – gerade hier in Deutschland und mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Nationalsozialismus?

Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Als ich vor 14 Jahren an der Universität Freiburg begonnen habe, waren die Studierenden noch sehr stark von der Schoah-Thematik motiviert. Später war es vor allem der Nahost-Konflikt, der das Interesse der Studierenden geweckt hat. Dass deutsche Studierende noch Schuld an den Verbrechen der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten empfinden, nehme ich zum Glück wenig wahr. Junge Israelis sind gegenüber jungen Deutschen sehr offen und umgekehrt, eine Feindschaft ist überhaupt nicht mehr da.

Johanna Pink: Meine Großeltern haben das Dritte Reich als Erwachsene erlebt, und meine Generation hat die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Form der Teilung Deutschlands direkt erfahren. Aber für die heutigen Studierenden ist das weit weg. Es ist für sie ein Teil der deutschen Geschichte, so wie für unsere Generation vielleicht Otto von Bismarck – man lernt etwas darüber, es ist aber nicht mehr so persönlich. Aber gerade in der Bundesrepublik muss dieses Thema in der Ausbildung präsent bleiben. Etwa in Österreich oder der DDR war die Auseinandersetzung mit der historischen Verantwortung längst nicht so stark ausgeprägt. Bis heute ist dort das Wissen darüber, was passiert ist, sehr gering, und die Ressentiments sind viel höher. In Deutschland dagegen haben relativ breite Schichten ein Bewusstsein für das Thema. Es ist wichtig, dass das so bleibt.