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Sendbote der Demokratie?

Eine Musik, viele Bedeutungen – Zum Welttag des Jazz am 30. April gibt der Historiker Michel Abeßer Einblicke über den Jazz im Staatssozialismus

Freiburg, 18.04.2018

Sendbote der Demokratie?

Foto: eugenesergeev/Fotolia

„Seit seiner Entstehung provozierte der Jazz weltweit zahlreiche gesellschaftliche Kontroversen“, sagt Historiker Michel Abeßer von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Wenn in den USA, Frankreich, der Weimarer Republik oder der jungen Sowjetunion um Jazz gestritten wurde, sei es nie ausschließlich um die Musik selbst, sondern immer auch um das Verhältnis von Hoch- und Massenkultur, Hierarchien zwischen Männern und Frauen und rassische Diskriminierung gegangen. „Diese Konflikte verbanden sich rasch mit dem für den Jazz so zentralen Stilmittel der Improvisation zum Bild einer progressiven und freiheitlichen Musikform, die das Individuum ins Zentrum rückte“, erläutert Abeßer.

Seit den Repressionen, denen seine Anhängerinnen und Anhänger im Nationalsozialismus ausgesetzt waren, und der repressiven Kulturpolitik innerhalb des Ostblocks in der ersten Phase des Kalten Kriegs bis 1953 schien für die westliche Welt deutlich zu werden, dass Jazz und Diktaturen nicht zusammenpassten. „Das US-amerikanische State Departement versuchte so den Jazz im Radio und durch Konzerttourneen von Musikern wie Louis Armstrong und Benny Goodman als Sendbote für Demokratie und Freiheit gegenüber dem sozialistischen Gegner zu instrumentalisieren.“

Nach dem Tod Josef Stalins habe sich die kulturpolitische Situation im Ostblock geändert und zu einem Boom an Jazzbands und Unterhaltungsmusik geführt. Der Jazz in der DDR, der Volksrepublik Polen und besonders der Sowjetunion sei Teil einer breiten gesellschaftlichen Diskussion zwischen Partei, Komponistenverbänden und der Bevölkerung geworden. „Das sowjetische Beispiel zeigt, dass das Regime nach kontroversen Diskussionen durchaus in der Lage war, mit sowjetischem Jazz dem Unterhaltungsbedürfnis der wachsenden städtischen Mittelklasse entgegenzukommen und dabei auch die klammen Kassen der staatlichen Konzertorganisationen zu füllen.“

Der Jugendverband Komsomol habe den jugendlichen Jazzfans die Möglichkeit eröffnet, sich zum Spielen von und Diskutieren über Jazz in Jugendklubs und -cafés zu versammeln und über einen eigenen sowjetischen Jazz nachzudenken, der sich vom amerikanischen Vorbild unterschied. Diese jugendlichen Musiker und Fans seien durch den Jazz nicht zu scharfen Kritikern des sozialistischen Systems geworden, sondern aufgrund ihrer Berufe als Techniker und Ingenieure vielmehr zu wichtigen Vertretern, die sich mit der Musik von Altersgenossen anderer Schichten „kultiviert“ abgrenzen konnten. „Der Jazz wurde in der Sowjetunion nach 1953 weniger das Vehikel der Revolte oder Auslöser staatlicher Repression als vielmehr eine moderne Musik der spätsowjetischen Gesellschaft, deren Mitgliedern er Unterhaltung und Distinktion ermöglichte.“

Michel Abeßer ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter  an der Professur für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sowjetunion und russische Zeitgeschichte, Medien- und Jugendkultur im Sozialismus sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Russischen Imperiums.

 




Michel Abeßer, M.A.


Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte
Rempartstraße 15, 79098 Freiburg im Breisgau

Tel: +49-(0)-761-203 3456
E-Mail:michel.abesser@geschichte.uni-freiburg.de

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