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Zwischen Enge und Weite

Das Buch „Platz da!“ dokumentiert, wie Freiburger ihre wachsende Stadt wahrnehmen

Freiburg, 24.05.2018

Zwischen Enge und Weite

Foto: Thomas Kunz

Zwei Semester lang hat die Freiburger Kulturanthropologin Dr. Sarah May gemeinsam mit den Studentinnen Katharina Roeb und Raffaela Grimm untersucht, welche Vor- und Nachteile es mit sich bringt, wenn eine wachsende Stadt wie Freiburg nachverdichtet und neue Flächen erschließt. Herausgekommen ist das Buch „Platz da! Praktiken urbaner Verdichtung“, das die Gruppe am 6. Juni 2018 ab 20.30 Uhr im josfritzcafé vorstellen wird. Ein kleiner Stadtrundgang gibt einen Vorgeschmack auf die Erkenntnisse.

Traktordemo11_540.jpg„Stoppt Dietenbach“: Landwirte protestieren gegen Nachverdichtung im Freiburger Westen. Foto: Thomas Kunz

Von dem Haupteingang des Stadttheaters aus schweift der Blick über die noch etwas ungewohnte Weite auf dem Platz der Alten Synagoge und gibt dem Auge – und vielleicht auch der Seele – das Gefühl von Offenheit. Da springt von hinten ein kläffender Köter am Bein hoch. Eine Begrüßung für den gerade eingetroffenen Gast am neuen urbanen Treff? Nein. Das Schnappen nach der freundlich hingestreckten Hand zeigt, dass der Besucher irgendeine Linie überschritten haben muss und hier eher jemand sein Revier verteidigt. Da pfeifen die Herrchen, entspannt ans Theaterportal gelehnt, den Hund zurück und winken dem Neuankömmling Entwarnung zu. Ist doch Platz für alle da. Stimmt das?

Die mathematische Antwort darauf lautet, dass nach der letzten Erhebung im Januar 2017 die Einwohnerdichte in Freiburg 54,5 Personen pro Hektar beträgt und jede hier lebende Person statistisch gesehen 183 Quadratmeter für sich beanspruchen kann. Der Gedanke an die eigene Wohnung zeigt, dass Statistik nicht alles ist. Die Frage, wie viel Platz eine Stadt hat und für wen, ist komplexer. Inzwischen haben sich Sarah May und die beiden Studentinnen Katharina Roeb und Raffaela Grimm vor dem Theater eingefunden. Auf einem kleinen Rundgang durch die Innenstadt wollen sie über das Verhältnis von Raumangebot und den damit verknüpften Empfindungen der Stadtbewohnerinnen und -bewohner sprechen.


Urbaner Treff vor der Universitätsbibliothek: Raffaela Grimm, Sarah May und Katharina Roeb (von links) diskutieren über einen besonders beliebten öffentlichen Platz. Foto: Thomas Kunz

Platz fürs Nichtstun

Aber warum trifft sich die Gruppe am scheinbar luftigsten Platz Freiburgs, um über Stadtverdichtung zu sprechen? „Gerade in einer Stadt, in der privater Raum schwer zu bekommen ist, und das Erschwingliche kleiner ist als das, was man benötigt oder anderswo gewohnt war, entsteht das Bedürfnis nach öffentlichen Räumen“, sagt Sarah May. „Sie sollen Aktivitäten ermöglichen, die in den eigenen Räumlichkeiten nicht mehr möglich sind.“ Wer keine Wohnung mit Balkon oder Garten findet, wem der weitläufige Hinterhof nachverdichtet wurde oder wer sich ein zusätzliches Zimmer, um Gäste zu empfangen, nicht mehr leisten kann, gibt seine Empfänge eben im öffentlichen Raum.

An diesem Tag bieten diverse Stände mit Spielen und Rutschen Zerstreuung und Unterhaltung an – ein ausgelagertes, weil fehlendes Kinderzimmer? Vor dem Kollegiengebäude II steht eine Bühne, auf der die erste Band des Abends zu rocken beginnt. Doch häufig tun die Menschen relativ unspektakuläre Dinge an diesem Ort, hat Raffaela Grimm in einer „Langzeitbelichtung des Stadtraums“, wie sie ihre teilnehmende Beobachtung nennt, herausgefunden. Sie treffen sich und sitzen auf den Holzbänken. Sonnen ist an diesem regnerischen Tag weniger angesagt, aber es wird gegessen und getrunken. Diese alltäglichen Tätigkeiten führten bei Grimms Studien zu einem unerwarteten Befund: „Wenn ich die Leute gefragt habe, wie sie den Platz nutzen, haben viele geantwortet: ‚Gar nicht.‘ Dabei sind jedes Überqueren des Platzes genauso wie Sonnen, Rumsitzen oder einfach Nichtstun Formen der Nutzung.“ Und: „Freiflächen für dieses vermeintliche Nichts sind wichtig, um Stadtverdichtung als etwas Positives zu empfinden.“


Cappuccino und Kinderwagen: Das Viertel „Grün“ in der Innenstadt bezeichnen die Kulturanthropologinnen als gentrifizierten Kiez. Foto: Thomas Kunz

Chai Latte schlürfen, um die Wohnung bangen

„Man kann das als Alltagsverdichtung bezeichnen. Alltagspraktiken, die anderswo eher getrennt stattfinden, treffen hier aufeinander: zum Beispiel Skater auf ihrer ‚Piazza‘ neben Eltern, die mit ihren Kindern essen“, ergänzt Katharina Roeb. Sie setzt den Rundgang am zentralen Punkt der Fahrradverdichtung vor der Universitätsbibliothek fort. Es geht zum Café Sedan, in dem Roeb zu Forschungszwecken viel Zeit verbrachte. Dort hat sich inzwischen die übliche, eher studentisch geprägte Nachmittagsklientel eingefunden. So leger das Café von außen wirken mag, so prägend sind doch die unausgesprochenen Normen. Roeb kann klare Nutzungszeiten benennen: „Gegen halb zwölf sind es hauptsächlich Mütter, gegen zwei Uhr Studierende und abends Männer, die Chai Latte trinken.“ Das Grün ist insofern ein typisch gentrifizierter Kiez. Die einen freuen sich beim Cappuccino darüber, dass sie die Miete für die frisch renovierte Familienwohnung bezahlen können, auch wenn ihnen der verpackungsfreie Laden an der Ecke zu teuer ist. Die andern kaufen bei Norma ein und bangen, dass ihre Wohnung aus dem Niedrigeinkommenssegment wegsaniert wird.

Auch die Traditionskneipe Litfass um die Ecke haben junge Hipster inzwischen für sich entdeckt. Weit nach Mitternacht lamentieren aber die von damals Übriggebliebenen, dass früher alles besser war, und zählen im selben Atemzug auf, welche Häuser ihnen gehören und dass sie die jetzt alle flachwalzen und was Neues hinstellen lassen. „Narratives Interview“ nennt Roeb die Technik, mit der sie diese Einsichten in langen Nächten am Stammtisch gewonnen hat.


Alle auf einer Piazza: Alltagspraktiken, die anderswo getrennt stattfinden, treffen am Platz der Alten Synagoge aufeinander. Foto: Thomas Kunz

Kritik vom Stadtrand

Vor dem Baugerüst an der Moltkestraße, vielleicht ein Vorbote des nächsten gentrifizierenden Verdichtungsschlags, bleibt noch die Frage, wie die urbane Strategie am Stadtrand ankommt. Der Landwirt, den Sarah May zu den Auswirkungen der Stadterweiterung am Dietenbach befragt hatte, positionierte sich eindeutig: „Wieso muss um einen Baumarkt eine riesige Parkfläche sein? Wieso muss die Stadt so in die Breite rausgehen und so viel Land verbraucht werden, wenn’s auch andere Möglichkeiten gibt?“ Landwirtinnen und Landwirte haben mit Land ein ähnliches Problem wie Mieterinnen und Mieter mit Wohnraum: Beides wird knapp. Landwirtschaftliche Betriebe haben in der Regel nur einen Eigenflächenanteil von 20 bis 30 Prozent. Was verloren geht, sind Pachtflächen, für die es keinen Ausgleich gibt. Manche Verpächter betreiben selbst keine Landwirtschaft mehr und verkaufen – zu Preisen, die niemand stemmen kann. Und wofür? May fasst die Stimmung im Umland zusammen: „Für einen Stadtteil, den sich auch wieder nur Reiche leisten können.“

Jürgen Reuß