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Ein Virus, viele kleine Wellen

Der Infektiologe Winfried Kern sieht kein rasches Ende der Pandemie und vermutet, dass es immer wieder lokale Ausbrüche von Covid-19 geben wird

Freiburg, 16.04.2020

Ein Virus, viele kleine Wellen

Foto: Universitätsklinik Freiburg

Aktuell behandelt das Universitätsklinikum Freiburg 80 bis 100 Patientinnen und Patienten, die an Covid-19 erkrankt sind. Professor Dr. Winfried Kern, Ärztlicher Leiter der Infektiologie am Department Innere Medizin, glaubt nicht, dass diese Zahl noch steil ansteigen wird – aber er sieht auch kein rasches Ende der Pandemie. Im Interview mit Jürgen Schickinger berichtet Kern über die Lage im Klinikum, Therapien und Hindernisse, individuelle Risiken und gesellschaftliche Herausforderungen und erklärt, was eine protestantische Freikirche mit den Fallzahlen in Südbaden zu tun hat.

Aktuell behandelt das medizinische Personal der Universitätsklinik Freiburg 80 bis 100 Covid-19-Patienten. Foto: Universitätsklinik Freiburg

Herr Kern, wie sind aktuell Lage und Stimmung in der Universitätsklinik?

Winfried Kern: Die Stimmung bei uns ist den Umständen entsprechend: Wir sind zwar sehr gut aufgestellt, hatten hier aber schon mehr als 20 Todesfälle wegen Covid-19. Das ist eine Belastung. Aber wir müssen diese Fälle auch einordnen: Da waren viele sehr betagte Patienten dabei, bei denen jede andere Komplikation, etwa im Verlauf einer Grippe, leider wohl ebenfalls zum Tod geführt hätte. Trotzdem geht uns jeder Todesfall nahe.

Sind die Kapazitäten an Betten und Intensivplätzen inzwischen knapp?

Nein, sowohl unsere Normal- als auch unsere Intensivstation haben sich minutiös auf die Pandemie vorbereitet und viele neue Kapazitäten an Betten und zugehöriger Ausstattung bereitgestellt. Die Betten sind nicht alle belegt. Darum haben wir Patienten aus dem Elsass aufnehmen können und würden es bei Anfragen auch heute wieder tun – oder vielleicht vorher in Karlsruhe nachfragen. Die haben noch mehr Kapazitäten.

Unterscheidet sich die Lage in Baden-Württemberg stark?

Ja, in Nordbaden, also rund um Karlsruhe, ist es sehr ruhig. Ein Hot Spot in Baden-Württemberg ist dagegen der Landkreis Hohenlohe. Dort muss irgendetwas passiert sein, eine große Veranstaltung, durch die sich SARS-CoV-2 stark verbreitet hat. Allein an den Leuten, die aus dem Skiurlaub zurückgekehrt sind, kann das nicht gelegen haben. Unsere Region gehört ebenfalls zu den Hot Spots. Das hängt mit dem Zustrom von Pendlerinnen und Pendlern aus dem Elsass und einer Veranstaltung in Mülhausen zusammen: Im Februar haben sich dort mehr als 2.000 Anhängerinnen und Anhänger einer protestantischen Freikirche getroffen, mehrere Tage lang. Auf dem Treffen haben sich sehr viele Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert. Danach haben Pendler das Virus mit in die Nordschweiz und nach Südbaden gebracht.

Welche Behandlungen erhalten Covid-19 Erkrankte hauptsächlich?

Aktuell behandeln wir 80 bis 100 Covid-19-Patienten. Die meisten von ihnen erhalten keine spezifische antivirale Therapie, sondern eine allgemeine, die ihre Symptome bekämpft. In der Regel bekommen sie beispielsweise Medikamente gegen Schmerzen, Entzündungen und Fieber und bei starkem Husten möglicherweise noch Antitussiva, Hustenstiller. Spezifische Therapien brauchen nur sehr schwer Erkrankte. Das sind bei uns im Klinikum ungefähr 30 bis 40 Prozent der Betroffenen.

Ist bekannt, welche Patienten eher schwere Verläufe entwickeln?

Nein, da gibt es nur Hypothesen. Am häufigsten zitiert wird die Inokulations-Hypothese, die auch einleuchtend klingt: SARS-CoV-2 kann Lungengewebe angreifen. Entsprechend steigt nach der Inokulations-Hypothese die Gefahr für schwere Verläufe dann, wenn Personen hohe Keimzahlen tief einatmen. Das führt möglicherweise zu einem starken Befall der Lunge, bei dem dort viel auf einmal kaputt geht. Man sollte also in Deckung gehen, wenn jemand in der Nähe hustet. Gerade wenn uns Infizierte direkt anhusten, können wir eine ordentliche Ladung Viren abbekommen. Das ist wahrscheinlich für alle gefährlich: Hinweise für die Inokulations-Hypothese haben etwa Todesfälle von jungen Ärztinnen und Ärzten geliefert, die unerkannte Covid-19 Patienten ohne Schutzausrüstung betreuten. Diese Ärzte waren ganz normale, gesunde Leute – um die 30 Jahre alt und ohne Vorerkrankungen.

Dann haben Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen zwar ein erhöhtes Sterberisiko, aber kein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe?

Doch, beides. Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen haben im Vergleich zu Gesunden eine kleinere Lungenreserve. Ihr System ist anfälliger und kippt schneller. Das betrifft nicht nur SARS-CoV-2-Infektionen. Auch beispielsweise bei einer Grippe sind Herz-Kreislauf-Patienten stärker gefährdet.

„Wichtig sind jetzt Solidarität und Kooperationsbereitschaft“: Winfried Kern plädiert für individuelles Engagement und eine Stärkung der Zusammenarbeit unter Einrichtungen.
Foto: Universitätsklinik Freiburg

Behandeln Sie die schweren Fälle zum Beispiel auch mit Mitteln gegen Malaria oder Ebola?

Ja, das machen wir. Wir haben auch beantragt, beim SOLIDARITY Trial der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mitzumachen. Dieses Projekt führt die Daten zusammen, die Medizinerinnen und Mediziner weltweit zu unterschiedlichen Wirkstoffen sammeln. Die WHO will rasch eine breite Datengrundlage schaffen, auf der sich beurteilen lässt: Mittel A wirkt besser als Mittel B und Mittel B wiederum kaum besser als eine rein symptomatische Therapie.

Haben Sie einen Favoriten unter den Wirkstoffen?

Wir würden unseren Patienten am liebsten Remdesivir geben. Dieser Wirkstoff, der gegen Viren wie Ebola entwickelt wurde, ist aber nicht zugelassen. Bei seinem Einsatz handelt es sich um „compassionate use“. Dieses Sonderprogramm ist für schwer erkrankte Patienten gedacht, denen zugelassene Mittel nicht ausreichend helfen. Hier bestimmen die Hersteller über die Kriterien der Verwendung mit. Bei ihnen müssen wir Remdesivir für Patienten extra anfordern. Diese Patienten müssen schwer erkrankt sein, aber auch nicht zu schwer. Wenn sie auf der Intensivstation liegen und beispielsweise schon Herz-Kreislauf-Mittel erhalten, bekommen sie den Wirkstoff nicht mehr. Wir verwenden auch das Malariamittel Hydroxychloroquin. Unseren Erfahrungen nach haben beide Wirkstoffe vermutlich einen Nutzen und nur geringe Risiken. Unter bestimmten Umständen eignen sich allerdings andere Therapien besser, und wir arbeiten noch an weiteren Ansätzen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Eines ist Tocilizumab, ein Antikörper gegen den Entzündungsbotenstoff Interleukin 6. Dieser Antikörper kann nützlich sein, wenn Gefahr besteht, dass eine stark überschießende Reaktion des Immunsystems bei Patienten zu Lungenversagen führt. Außerdem ist geplant, zusammen mit dem Universitätsklinikum Ulm an einer Rekonvaleszenz-Plasma-Therapie zu arbeiten. Dafür spenden Patienten, die von Covid-19 genesen sind, ihr Blutserum. Darin befinden sich auch Antikörper, die sich gegen SARS-CoV-2 richten. Nach einer Transfusion sollen schwer erkrankte Covid-19-Patienten mit diesen Antikörpern das Virus besser bekämpfen können.

Die Aussagen zum weiteren Verlauf der Pandemie unterscheiden sich sehr stark.

Das stimmt. Ich bin der Meinung, dass eine Welle in der Stärke, wie sie vorhergesagt wurde, nicht mehr kommen wird. Diese Prognosen basierten auf Daten aus Italien von vor vier Wochen. Doch seither hat sich die Situation geändert, wohl auch durch Maßnahmen wie etwa die Kontaktbeschränkungen. Die grundlegenden Annahmen für die Modelle sind also nicht mehr richtig. Aber darüber gibt es Streit unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Meinem Eindruck nach hat sich die Pandemie bei uns schon deutlich abgeschwächt. Deshalb befürchte ich, dass wir statt einer hohen Welle mehrere kleine bekommen – etwa weil es immer lokale Ausbrüche in Pflegeheimen, Kliniken und ähnlichen Einrichtungen geben wird.

Ist die Universitätsklinik auch für eine lange Dauer der Pandemie gerüstet?

Wir sind sehr gut vorbereitet. Aber die Pandemie bedeutet eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Wichtig sind jetzt Solidarität und Kooperationsbereitschaft. Alle können einen Beitrag leisten. Studierende, die gerade Zeit haben, könnten beispielsweise unter Einhaltung der Sicherheitsempfehlungen bei Seniorinnen und Senioren die Technik für Videochats einrichten, damit diese besser Kontakt zu Angehörigen halten können. Es gibt viele Möglichkeiten, sich sinnvoll einzubringen. Auch wir können unsere Kooperationen noch verbessern: die der Kliniken untereinander, die mit den Gesundheitsbehörden, die zwischen Deutschland und Frankreich.

Wann glauben Sie, dass wir wieder halbwegs normale Lebensumstände haben werden?

Ich schätze, dass es mindestens noch gut ein Jahr dauern wird, bevor die Coronakrise medizinisch weitgehend überwunden ist, also frühestens nach der kommenden Wintersaison. Über den Sommer wird die Zahl der Neuinfektion vermutlich etwas sinken, weil sich Menschen seltener zusammen in Räumen aufhalten. Darum werden sich wohl auch die Maßnahmen lockern. Zum Winter hin kommt dann wieder die Erkältungs- und Grippesaison. Über das Husten und Niesen wird sich auch SARS-CoV-2 stärker ausbreiten, und einen Impfstoff aus großer Produktion wird es bis dahin noch nicht geben. Ich vermute, dass dann auch mehr Patienten im Klinikum behandelt werden müssen. 2021 könnte dann möglicherweise ein mehr oder weniger normaler Sommer kommen.