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Auf den Spuren urbaner Muße

Eine Stadtführung macht es wie das Freiburger Bächle und lässt sich treiben

Freiburg, 23.05.2019

Auf den Spuren urbaner Muße

Foto: Jürgen Gocke

Eins vorweg: es ist natürlich völlig absurd, sich ausgerechnet am 1. Mai zu einer Stadtführung zum Thema „Muße“ zu verabreden, während alle anderen den Tag der Arbeit mit Nichtstun verbringen, die Seele baumeln lassen und das gute Wetter genießen. Aber vielleicht ist das heimliche Leitbild des Sonderforschungsbereichs „Muße, Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“, das zu erforschen, was andere haben. Wo sich Muße in Freiburg finden lässt, hat Prof. Dr. Hans W. Hubert vom Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg beim Stadtrundgang erklärt.

Der Oberlindenbrunnen ist ein Konstrukt aus einer Zeit, in der Freiburgs Bürgermeister Otto Winterer an der Gotisierung der Stadt arbeitete. Foto: Jürgen Gocke

Eine beachtliche Gruppe hat sich an diesem Tag am Schwabentor zusammengefunden, um urbane Muße in Freiburg zu erleben. Sie ist so groß, dass die vorbereiteten Reader von Prof. Dr. Hans W. Hubert nicht ausreichen werden, die er aus einem Leinenbeutel mit einem aufgedruckten Faultier fischt. Es ist das Emblem des Muße-Magazins, das der Sonderforschungsbereich „Muße, Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ herausgibt. „Die Studierenden haben es ausgesucht“, kommentiert Hubert gut gelaunt das sympathische Maskottchen.

Die von ihm angebotene Tour lockt nicht nur mit einem anderen Zugang zur Stadt, sie ist auch die Eröffnungsveranstaltung der Tagung „Urbane Muße, Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen“, die am darauffolgenden Tag beginnt. Dass man bei der Stadtführung zwanglos mit Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch kommen und sich kennen lernen kann, ist ein durchaus gewollter Nebeneffekt.

Flanieren wie das französische Vorbild

Hubert qualifiziert nicht nur sein kunsthistorisches Wissens zu der Führung, sondern auch seine Herkunft. Er ist Berliner. Und hat nicht Berlin mit dem Schriftsteller Franz Hessel den einzigen deutschen Flaneur hervorgebracht, der es ernsthaft mit dem französischen Vorbild, dem Dichter Guillaume Apollinaire, aufnehmen konnte? Bevor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Führung sich in Bewegung setzen noch ein kurzer Blick in den Reader. Dort ist ein „Gruss von der Mai-Feier“ abgebildet. Auf der Postkarte postuliert eine junge Familie – der Mann hält in der einen Hand die Fahne, in der anderen ein Marx-Porträt – „8 Stunden Arbeit/8 Stunden Muße/8 Stunden Schlaf“. Da ließe sich doch etwas abschauen!

Dabei sollte es nicht so schwer sein, von Freiburg Muße zu lernen. Galt die Habsburgergründung doch im späten 19. Jahrhundert als Stadt der Pensionäre. Und wer sollte sich mit Muße besser auskennen als jene, die die Rushhour des Lebens schon hinter sich hatten, finanziell gut abgesichert waren und ihre letzte Lebensphase angenehm verbringen wollten?

Auch auf dem Alten Friedhof ist die Zeit nicht außer Kraft gesetzt. Foto: Jürgen Gocke

Das Überschaubare und Idyllische, das auch heute noch Freiburg kennzeichnet, verdankt sich einer cleveren Imagekampagne. Was heute mittelalterlich erscheint, wurde vielfach im 19. und frühen 20. Jahrhundert erschaffen. Der leicht mäandernde Verlauf der Salzstraße, der die Augen mit vielen abwechslungsreichen Fassaden erfreut, überträgt Prinzipien von Sichtachsen und Wegführungen aus der Gartenarchitektur in den Stadtraum. Dass die Altstadt wenig monoton wirkt und kleinere Geschäfte vorherrschen, liegt an dieser kleinteiligen Parzellierung, an der man sich auch beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte.

Das Prinzip des Treibenlassens

Freiburgs Bürgermeister Otto Winterer, so wird Hubert am Oberlindenbrunnen berichten, arbeitete Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts an einer Gotisierung der Stadt. Das Münster gab den Stil vor. Freiburg sollte schönste Stadt Deutschlands werden. Der Brunnen am Oberlindenplatz ist ein Konstrukt aus dieser Zeit. Aus dem Mittelalter war die Linde als bedeutender Baum überliefert, insofern unter ihr oft Recht gesprochen wurde. Doch der Brunnen selbst ist für das mittelalterliche Freiburg nicht belegt. Die Verbindung von Brunnen und Linde mag authentisch wirken, doch sie ist durch Literatur und Bildtradition aufgeladen.

Die Teilnehmer der Führung sitzen und stehen entspannt am Schwabentor. Die Augen gehen nach links, wo auf der anderen Seite der Straße das Wasser in das Kanalsystem eingespeist wird. Die Bächle sind in Form einer Raute angelegt und nutzen das Gefälle der Stadt – am Ende fließt das Wasser in Unterlinden wieder zusammen. Müßig gehen kann auch einfach heißen, dem Wasser zu folgen und dem Prinzip des Treibenlassens. Was heute eine Art Markenzeichen der Altstadt ist, hatte im Mittelalter auch wirtschaftliche Gründe: Die Bächle belieferten die Handwerksbetriebe mit Brauchwasser.

Freiburg war eine Handelsstadt, 1120 wurde ihr vom Zähringer Konrad zusammen mit dem Stadtrecht auch das Marktrecht verliehen. Gehen die Augen der Teilnehmer nach rechts, streift der Blick die Wäscherei Himmelsbach, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Firmensitz in der Gerberau hat. Im Mittelalter war hier ein Badehaus – auch so ein Ort der Muße. Im Keller, so erzählt Hubert, befindet sich eine Wasserkraftanlage, um Energie für den Betrieb beziehungsweise für das öffentliche Stromnetz zu erzeugen. Da hatte wohl jemand Muße, nachzudenken. Muße ist eben Zeit, die man so oder so nutzen kann.

Manchmal endet Muße dort, wo sie die anderer berührt

Die Gruppe biegt in die Gerberau ein und muss erst einmal ausweichen. Die Muße von Fußgängern ist der von Cabrio-Fahrern argumentativ unterlegen. Manchmal endet die Muße dort, wo sie die anderer berührt. Wir streifen den Augustinerplatz, wo die Anwohnerinnen und Anwohner das Freizeitverhalten mancher als Lärmbelästigung wahrnehmen. Wir schlendern Richtung Münster, dort wehen die Verse des alten Reinhard Mey-Schlagers von der Freiheit, die da oben wohl grenzenlos sein muss, herbei. Eine kurze Rast, und dann geht es über kleinere Umwege zum Alten Friedhof, bevor die Stadtführung den Kastaniengarten auf dem Schlossberg ansteuern wird.

„Wäre toll, wenn wir Zeit hätten“, sagt Hubert noch und weist auf den Bestand an alten Gräbern hin. Und wirklich wären die Denkmäler zwischen dem hohen Gras, in dem vereinzelte Blumen stehen, es wert, genauer betrachtet zu werden. Doch da läutet die Glocke der benachbarten Ludwigskirche. Selbst auf einem Friedhof ist die Zeit nicht außer Kraft gesetzt. Für die, die hier liegen, ist sie unerheblich geworden. Und die Lebenden sollten sie öfter als Muße begreifen.

Annette Hoffmann