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Das Auge flaniert mit

Karneval, Buchhandlung, Park – wie Schriftsteller um 1800 Muße in europäischen Metropolen erlebten

Freiburg, 09.04.2019

Den meisten fehlt sie, viele sehnen sich in der modernen, schnelllebigen Zeit nach ihr – doch auch in beschaulicheren Perioden war Muße ein rares Gut, zumindest in großen Städten. Wie erlebten Johann Wolfgang von Goethe in Italien und deutsche Schriftsteller in Paris oder London den hektischen Alltag von Metropolen? Welche Möglichkeiten eines Ausgleichs fanden sie dort? Fragen dieser Art widmen sich die Germanisten Prof. Dr. Peter Philipp Riedl und René Waßmer im Sonderforschungsbereich (SFB) „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ der Universität Freiburg.


Johann Wolfgang von Goethe beschrieb begeistert den Karneval in Italien – die Beobachtung des bunten Treibens gilt als eine Form des Flanierens. Foto: phokrates/stock.adobe.com

Eine Schildkröte an der Leine spazieren führen – geht das? Laut Walter Benjamin gehörte diese exzentrische Form des Promenierens in Paris um 1840 zum guten Ton. Sollte der Literaturwissenschaftler und Philosoph einer Mär aufgesessen sein, so einer durchaus sinnreichen: Die erstaunliche Überlieferung erzählt vom Wunsch nach Entschleunigung in einer von Hektik und rastloser Betriebsamkeit geprägten urbanen Welt – und indirekt vom menschlichen Bedürfnis nach Muße.

Für den Freiburger Germanistikprofessor Peter Philipp Riedl entsteht dieses Bedürfnis zur gleichen Zeit, in der Arbeit nicht mehr als reine Existenzsicherung betrachtet wird, sondern als Mittel zur Identitätsbildung und Selbstfindung aufsteigt. Riedls Projekt am Sonderforschungsbereich nimmt Muße literaturwissenschaftlich in den Fokus. Es besteht aus zwei Arbeitsgebieten. Riedl untersucht Formen urbaner Wahrnehmung und Muße in Goethes „Italienischer Reise“ sowie den „Römischen Elegien“ und „Venezianischen Epigrammen“. Sein Doktorand René Waßmer analysiert deutsche Reise- und Korrespondentenberichte aus London und Paris zwischen 1770 und 1830. Das grundlegend Neue an ihrem Projekt: Die Figur des Flaneurs – des Müßiggängers par excellence – hatte in der Literaturwissenschaft gemeinhin seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren Auftritt. Bei Riedl und Waßmer betritt der Flaneur bereits einige Jahrzehnte früher die Bühne der Literatur: um 1800.

Doppelte Freiheit

Der SFB bestimmt die Muße als produktive Unproduktivität. Dieses Verständnis fußt auf dem doppelten Freiheitsbegriff des Philosophen Isaiah Berlin. Danach ist Muße einerseits Freiheit von etwas – sei es von fremdbestimmter Arbeit oder von gesellschaftlichen Zwängen. Gleichzeitig ist sie Freiheit zu etwas: zu zweckfreier Tätigkeit, die oftmals der Selbstfindung dient. Riedl und Waßmer zufolge findet der Flaneur in der schweifenden Entäußerung an seine Umgebung am Ende auch sich selbst: Das Beobachten in Muße verändert auch den Beobachter, seine Wahrnehmung derjenigen, die er beobachtet, ebenso wie seine Selbstwahrnehmung.

„Flanieren bedeutet Spazierengehen im urbanen Raum“, erklärt Riedl. In den angeführten Werken Goethes findet Riedl alle drei Typen des Flaneurs, wie sie ein französisches Konversationslexikon von 1867 anführt, wieder: den „flâneur lettré“, der sich bevorzugt in Buchläden aufhält; Goethe selbst wird als eifriger Theatergänger und Beobachter des römischen Karnevals zum „flâneur des parades“, und seine Vorliebe für öffentliche Gärten macht ihn auch zu einem „flâneur des jardins publics“.


Entspannte Müßiggänger: Der französische Maler Gustave Caillebotte zeigt zwei Beobachter auf einem Balkon in Paris um 1880. Quelle: Wikimedia Commons

Riedl und Waßmer sprechen mit Blick auf den Flaneur von einer „doppelten Fremdwahrnehmung“: Zum einen erlebten Paris- und Londonreisende wie Ernst Moritz Arndt, Georg Friedrich Rebmann, Hermann Fürst von Pückler-Muskau oder der Italienfahrer Goethe bei ihren Aufenthalten fremde Sitten und Lebensverhältnisse. Zum anderen lebten sie in Metropolen, für deren Größe es in Deutschland zu jener Zeit keinen Vergleich gab. Goethe besuchte auf seiner Italienreise unter anderem Neapel – seinerzeit die drittgrößte europäische Metropole nach London und Paris. Im Vergleich zu dem „rückständigen“ deutschen Reich, so Waßmer, werden die Aufenthalte in London und Paris von den Korrespondenten, die für Friedrich Justins Bertuchs Zeitschrift „London und Paris“ aus den beiden Metropolen berichteten, als „Reisen in die Zukunft“ erlebt.

Spaziergänger und Spaziersitzer

Während Benjamins Begriff des Flaneurs im Grunde einen Sozialtypus beschreibt, bevorzugen Riedl und Waßmer einen Begriff des Flanierens unabhängig von gesellschaftlicher Herkunft und Einbindung. „Uns interessieren Formen des Flanierens im Sinne von Wahrnehmung und ihrer erzählerischen Übersetzung“, erläutert Riedl. Nach seiner Beobachtung werden die beiden so unterschiedlichen Perspektiven in der Forschung bis heute vermischt und miteinander verwechselt. Flanieren im formalen Sinn ist dabei keineswegs an Bewegung gekoppelt. Waßmer führt als Beispiel Korrespondentenberichte aus Paris an, die mit Blick auf Besucherinnen und Besucher eines Parks zwischen Spaziergängern und „Spaziersitzern“ unterscheiden. Bei letzteren flaniert gewissermaßen das Auge. Als gleichermaßen aufmerksame und entspannte Auseinandersetzung mit der Umgebung ist Flanieren ohnehin mehr eine geistige denn eine physische Tätigkeit.

Wer flaniert, ist kreativ

Wann und wo flaniert er eigentlich selbst? Nach kurzer Überlegung kommt Peter Philipp Riedl auf den Philosophen Christian Garve zu sprechen. Der erwähnt in seinem Buch „Über Gesellschaft und Einsamkeit“ von 1800 einen Spaziergang über den Markusplatz in Venedig. Beim entspannten Flanieren in der Anonymität der Menge, so Riedl, seien Garve die besten Ideen gekommen. Riedl selbst geht es mitunter beim Joggen so. Bewegung und Entspannung, rasch wechselnde Eindrücke und schweifende Gedanken: All das entspricht für Riedl der klassischen Definition des Flanierens: „Offenheit der Wahrnehmung, die Möglichkeit, die eigenen Gedanken schweifen zu lassen, kann auch zu einem kreativen Vorgang werden.“ Und mit Blick auf das Motto der Universität Freiburg – „Connecting Creative Minds“ – ergänzt er: „Flaneure sind, zumindest potenziell, Creative Minds.“

Hans-Dieter Fronz

 

Sonderforschungsbereich „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“