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Ein Fest der Riesenmoleküle

Hermann Staudinger begründete vor 100 Jahren die Polymerwissenschaft – Forschende der Universität Freiburg führen das Erbe des Nobelpreisträgers in die Zukunft

Freiburg, 25.09.2020

Was sollte dieses Gerede von den sehr großen Molekülen, aus denen angeblich Naturkautschuk bestehe? Der spätere Nobelpreisträger für Chemie Hermann Staudinger, damals noch Professor an der ETH Zürich, stieß 1920 mit einer Veröffentlichung die Fachwelt vor den Kopf. Die kannte allenfalls Zusammenlagerungen kleiner Moleküle zu großen Aggregaten, ohne feste atomare Verbindung. „Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht mit der Schmierenchemie“, riet ein Kollege Staudinger. Die Unkenrufer irrten gewaltig: Hundert Jahre nach ihrer Entdeckung feiern die „Riesenmoleküle“ einen Siegeszug sondergleichen. Die Universität Freiburg hat daran keinen geringen Anteil: Ihr Institut für Makromolekulare Chemie wurde 1940 als erstes derartiges europäisches Forschungszentrum von Hermann Staudinger, dem Vater der Polymerwissenschaften, gegründet.

Die 3-D-Ansicht dieses Moleküls wirkt beinahe wie eine Geburtstagsgirlande: Hermann Staudinger hat 1920 Makromoleküle entdeckt. Foto: sergunt/stock.adobe.com 

Ohne Hermann Staudingers Entdeckung gäbe es womöglich nicht so viel Plastik im Meer. „Aber ohne Polymere gäbe es auch keine Elefanten mehr, weil etwa für Billardkugeln längst kein Elfenbein mehr gebraucht wird“, nennt Prof. Dr. Rolf Mülhaupt, Direktor des Instituts, nur eines von zahllosen Beispielen für die segensreiche Wirkung von Kunststoffen als Produkt der Polymerforschung. „Die Probleme, die daraus entstehen, haben mit dem Menschen zu tun, nicht mit dem Material.“ Das wurde anfangs vor allem als Ersatzstoff gebraucht. Zum Beispiel konnte im Ersten Weltkrieg wegen der Seeblockade kein Kautschuk mehr nach Deutschland gelangen. Der Kaiser verlangte nach synthetischem Gummi für die Militärfahrzeuge. Auch der Bedarf an Elfenbein und Seide konnte bei wachsenden Bevölkerungszahlen nicht mehr allein aus natürlichen Quellen gedeckt werden. Sogar der Grundlagenforscher Staudinger ließ sich dazu herab, synthetisches Pfefferaroma und das industriell produzierbare Aroma von Röstkaffee zu entwickeln.

Ursprünglich in der Tradition der organischen Chemie verankert, stieß Staudinger in der Natur auf die Riesenmoleküle: Tausende kleiner Molekülbausteine, die wie Perlen auf einer Perlenkette miteinander verknüpft sind. Mit Viskositätsmessungen und Hydrierungsexperimenten wies er nach, dass die Makromoleküle erhalten bleiben und nicht, wie seine Kritiker behaupteten, unter Zugabe von Wasserstoff wieder in kleine Molekülbausteine zerfallen. Sich einfach nur die Natur zunutze machen reichte den Forschern in der Folgezeit nicht. Vielmehr wollten sie spezielle Materialeigenschaften kreieren: Cellulose zum Beispiel ist ein Naturstoff, der auf Polymeren basiert. „Aber Cellulose lässt sich nicht spritzgießen“, sagt Mülhaupt. Durch Zugabe von Campher entstand Zelluloid, das Filmgeschichte schrieb und Kindern die bekannten und beliebten Schildkröt-Puppen bescherte.

Stahlhart und geschmeidig, dicht und durchlässig

Als „molekulares Design“ beschreibt Rolf Mülhaupt, was sich heute hinter den rasanten Fortschritten der Polymerforschung verbirgt. „Aus allem können wir heute Kunststoff machen.“ Je nach molekularer Architektur und Eigenschaft der Katalysatoren, mit denen experimentiert wird, wird er stahlhart oder geschmeidig wie Gummi, isolierend oder leitend, dicht oder durchlässig. Aus minderwertigen Ersatzstoffen für knappe Güter entstanden moderne Werkstoffe, die heute nahezu überall anzutreffen sind: in Leichtbauteilen wie etwa in Autos, Textilfasern, Gummi, Leiterplatten und Lebensmittelverpackungen bis hin zu Zahnfüllungen, künstlichen Hüftgelenken, künstlichen Nieren oder Membranen für die Meerwasserentsalzung.

Von weltweit 15 Millionen Tonnen Polymeren im Jahr 1966 verzehnfachte sich die Produktion auf weltweit mehr als 150 Millionen Tonnen im Jahr 1996. Mülhaupt lobt das „attraktive Preis-Leistungs-Verhältnis, die energiesparende Herstellung und ihre leichte Formgebung“. Entstanden 1960 bei der Herstellung von einer Tonne Kohlenwasserstoffmaterialien wie Polyethylen oder Polypropylen noch 200 Kilogramm Abfall, auch von Lösungsmitteln, die recycelt werden mussten, wird ihnen heute überhaupt kein Lösungsmittel mehr zugesetzt, und „es entsteht Null Deponiebelastung“, versichert der Experte. Seine Arbeitsgruppe entwickelt sortenreine Verbundwerkstoffe für die Kreislaufwirtschaft, die etwa im 3-D-Druck angewendet werden.

Muelhaupt, Rolf (Loeffler Ringfoto)_540.pngNach seiner Emeritierung will Rolf Mülhaupt die Allianz von Grundlagenforschung und Produktentwicklung fortsetzen. Foto: Löffler Ringfoto

„Independence Day“ im Oktober

Voraussetzung für alle Fortschritte ist für den Chemiker die „anwendungsnahe Grundlagenforschung“. Weil in Freiburg die technische Chemie fehlte, verließ Mülhaupt seinen Studienort, um an der ETH Zürich seine Dissertation zu schreiben. Da hat er die technischen Verfahren für die Polymersynthese gelernt. Und wie die Industrie tickt, weiß er auch, seit er bei Unternehmen in der Schweiz und den USA gearbeitet hat. Als 1989 das Freiburger Materialforschungszentrum (FMF) gegründet wurde, gab es für Rolf Mülhaupt kein Halten mehr. Am FMF tüfteln Forscherinnen und Forscher aus Chemie, Pharmazie, Medizin, Biologie und Umweltwissenschaften gemeinsam mit der Industrie an neuen Werkstoffen. Mülhaupt wurde Professor für Makromolekulare Chemie und Direktor des gleichnamigen Instituts, bis vor kurzem war er geschäftsführender Direktor des FMF. Immer wichtiger wird die bio-inspirierte Materialforschung, die heute bei der Suche nach nachwachsenden und biofunktionalen Materialien nach dem Vorbild der Natur hochaktuell ist. Dafür stehen das Freiburger Zentrum für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien (FIT) und der Exzellenzcluster Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS).

Am 1. Oktober 2020 wird Rolf Mülhaupt emeritiert. Das werde für ihn kein Tag der Trauer sein, im Gegenteil. Er freue sich auf seinen „Independence Day“. Seine Firmenkontakte wird der Inhaber unzähliger Patente nutzen, um – frei von allen universitären Verpflichtungen – die fruchtbare Allianz von Grundlagenforschung und Produktentwicklung fortzusetzen und zu intensivieren.

Anita Rüffer

 

Artikel über Rolf Mülhaupts Forschung im Magazin uni’wissen