Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken Geteiltes Erbe

Geteiltes Erbe

Die Historikerin Anna Lux untersucht, wie Romane, Filme und TV-Sendungen über den Herbst 1989 die öffentliche Erinnerung prägen

Freiburg, 30.10.2019

Populäre Darstellungen von historischen Ereignissen eignen sich hervorragend, um die Erinnerungskultur zu erforschen, denn sie prägen das Geschichtsbewusstsein der Menschen wesentlich mit. Ob Spielfilme wie „Good Bye, Lenin!“, TV-Serien wie „Weißensee“, Romane wie „89/90“ oder Graphic Novels wie „Kinderland“: Forschende von den Universitäten Freiburg und Leipzig beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Deutungen und Umdeutungen des wohl wichtigsten Ereignisses in der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte.

Geschichten der Revolution: Die Forschenden beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Deutungen des Mauerfalls. Foto: snapshot-photography/SZ Photo/Timeline Images

Mit flackernden Kerzen in den Händen verlassen die DDR-Bürgerinnen und -Bürger am Abend des 9. Oktober 1989 die Nikolaikirche in Leipzig. Armee und Kampftruppen stehen bereit, während Zehntausende Menschen am Gebäude der Staatssicherheit und am Rathaus vorbeiziehen. Immer wieder rufen sie: „Wir sind das Volk!“ Es bleibt friedlich. Vier Wochen später fällt die Mauer. Zum 30. Jahrestag des wohl wichtigsten Ereignisses in der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte sind diese Szenen in Zeitungen, Filmen und TV-Sendungen allgegenwärtig. „Es sind diese Bilder, die Emotionen transportieren und auf den Systemsturz und die Wiedervereinigung zulaufen“, erläutert die Freiburger Historikerin Dr. Anna Lux.

Doch diese weit verbreitete Interpretation der Ereignisse von 89 als zwangsläufige Erfolgsgeschichte decke sich nur teilweise mit den historischen Tatsachen. Die Vorgänge seien vielschichtiger, zum Teil auch widersprüchlicher gewesen, als sie in der öffentlichen Darstellung und in vielen populären Formaten erschienen. Im Verbundprojekt „Das umstrittene Erbe von 1989“ beschäftigt sich Lux mit den unterschiedlichen Deutungen, Neu- und Umdeutungen zu dieser Zeit. An der Kooperation sind Forscherinnen und Forscher aus der Soziologie und den Geschichtswissenschaften der Universitäten Freiburg und Leipzig beteiligt; das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Vorhaben.

Vielschichtig und widersprüchlich

Seit den 1990er Jahren bestimmen Konflikte um die Erinnerung an 1989 die öffentlichen Debatten in Deutschland. Geschichtspolitisch dominiere nach Ansicht des Potsdamer Historikers Prof. Dr. Martin Sabrow das so genannte Revolutionsgedächtnis, das „durch einflussreiche Akteurinnen und Akteure der damaligen Bürgerbewegung repräsentiert wird“, führt Lux aus. „Danach habe das Aufbegehren der Oppositionellen gegen das Unrechtsregime wesentlich zu der sich ausweitenden Protestbewegung und den Montagsdemonstrationen beigetragen und in der Wiedervereinigung seinen erfolgreichen Abschluss gefunden.“

Diese Revolutionserzählung präge die Erinnerungskultur in den Medien, aber auch im Schulunterricht. Zugleich habe sie andere Erfahrungswelten in der Öffentlichkeit an den Rand gedrängt. Dazu gehört zum einen die Diskussion um eine demokratische Erneuerung der DDR, die in der Oppositionsbewegung ebenfalls eine wichtige Rolle spielte. „Zum anderen wurde das, was Sabrow als ‚Wendegedächtnis‘ bezeichnet, kaum Teil der öffentlichen Erinnerungskultur“, fügt Lux hinzu. Der Begriff meint die Erfahrung eines tief greifenden Umbruchs in der Lebens- und Alltagswelt.

Ostberlin, 1989: Menschen demonstrieren gegen eine mögliche Wiedervereinigung – eine Facette, die in der öffentlichen Erinnerung meist nicht prominent vertreten ist.
Foto: snapshot-photography/Tobias Seeliger, Timeline Images

Der Blick von unten

Die Freiburger Gruppe im Forschungsprojekt untersucht unterschiedliche Geschichtsbilder vom Herbst 1989 und von der anschließenden Umbruchphase in populären Darstellungen. Grundlage hierfür sind Spielfilme wie „Bornholmer Straße“ und „Good Bye, Lenin!“, TV-Serien wie „Weißensee“, Graphic Novels wie „Kinderland“ oder „Treibsand“, Radiobeiträge, Erzählungen und Romane. „Populäre Darstellungen sind zur Erforschung der Erinnerungskultur besonders interessant, weil sie das Geschichtsbewusstsein der Menschen wesentlich mitprägen“, betont Lux. Insbesondere Romane von Autorinnen und Autoren, die 1989 selbst Jugendliche waren, verfügten über ein großes analytisches Potenzial. Seit den Nullerjahren sei diese Generation verstärkt in die öffentliche Debatte über das Wendejahr eingetreten.

Die Romane seien häufig autobiografisch geprägt und erzählten die Geschehnisse der Umbruchzeit aus der Perspektive von Jugendlichen. „Über diesen Blick ‚von unten‘ thematisieren die Autoren die Rasanz, die Unübersichtlichkeit und auch die Unabsehbarkeit der Prozesse, die in der öffentlichen Erinnerung häufig keine Rolle spielen.“ Als Beispiel nennt Lux den im Jahr 2015 erschienenen Roman „89/90“ von Peter Richter. Anhand der Erlebnisse von Jugendlichen in Dresden zeigt Richter, wie im Wendejahr die bestehende Ordnung nach und nach verloren ging: Was gestern unumstößlich schien, galt auf einmal nicht mehr, Ideale krachten aufeinander, und Jugendliche, die gerade noch befreundet gewesen waren, standen sich nun, mit Baseballschlägern bewaffnet, auf der Straße gegenüber.

Darüber hinaus eröffnen die Texte Einblicke in bisher wenig thematisierte Konfliktfelder der damaligen Zeit, sagt Lux: Die Entfremdung von den Eltern etwa spiele eine zentrale Rolle, ebenso die Erfahrung von Gewalt. „Solche Romane zeigen die Bedeutung von Alltagsgewalt als Teil des Umbruchs und verweisen damit zugleich auf Linien, die bis in die Gegenwart reichen.“

Symbolischer Rückgriff

Das historische Erbe von 89 sei momentan aktueller denn je, wie zum Beispiel die Partei AfD mit der Verwendung von Parolen wie „Wende 2.0“ oder „Vollende die Wende“ in den Landtagswahlkämpfen 2019 vor Augen führe. „Der erfolgreiche symbolische Rückgriff auf die Montagsdemonstrationen, auf Begriffe wie ‚friedliche Revolution‘ und ‚Wende‘ verweist auf tiefer liegende Prozesse. Es ist wichtig, diese zu erforschen und zu verstehen“, sagt die Historikerin.

Die politische Umdeutung von 89 zeige sich auch in der Verwendung des Slogans „Wir sind das Volk“, der wie kaum ein anderer die Proteste von vor 30 Jahren symbolisiert. Heute werde der Spruch von Rechtspopulisten verwendet, um die eigene politische Agenda historisch zu rechtfertigen: Damals wie heute würde „das Volk“ vermeintlich gegen „die da oben“, gegen „Meinungs- und Gesinnungsdiktatur“ aufbegehren. Doch dieser Vergleich hinke hinten und vorne, so Lux: „Nicht nur sind die Bedingungen der heutigen Gesellschaft vollkommen andere als die in der DDR. Auch der Volksbegriff war damals ein ganz anderer. Ging es im Herbst 1989 um politische Beteiligung, um Bürgerrechte und Grundrechte für alle, so ist der Volksbegriff, wie die AfD ihn verwendet, ausgrenzend und völkisch geprägt.“

Ende November 2019 findet die Auftakttagung des Projekts an der Universität Leipzig statt. Damit werden die Teilnehmenden nicht nur gedanklich nah an den Ereignissen von 1989 sein: Zur Nikolaikirche sind es nur wenige hundert Meter.

Judith Burggrabe

 

„Das umstrittene Erbe von 1989“