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Kinder der nuklearen Katastrophe

Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl formierte sich ein internationales Netzwerk, um Betroffenen zu helfen – eine Annäherung mitten im Kalten Krieg

Freiburg, 25.01.2021

Das Thema begleitet die Freiburger Professorin für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte seit ihrer Kindheit: Bereits als Schülerin half Melanie Arndt in ihrer Heimatstadt Wittenberg bei der Betreuung von Kindern, die von der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl unmittelbar betroffen waren. Als Freiwillige der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ arbeitete sie nach dem Abitur in Minsk/Belarus für die Bürgerinitiative „Den Kindern von Tschernobyl“. Und nach ihrem Studium sowie der Promotion mit einer Arbeit zur Gesundheitspolitik im geteilten Berlin schrieb und gab sie mehrere Bücher über die Folgen des Atomunfalls heraus. Ihr neuestes Buch „Tschernobylkinder“ wirft ein Licht auf die internationale humanitäre Bewältigung der Katastrophe: Als sich Ost und West verbittert und verfeindet gegenüberstanden, wurden die Tschernobylkinder zu „Kindern des gesamten Planeten“.

Ein verlassener Kindergarten in der Oblast Kiew: In den Berichten vieler Menschen, die als Kinder und Jugendliche auf Erholungsfahrten geschickt wurden, stehen widersprüchliche Erfahrungen unvermittelt nebeneinander. Foto: Ruslana/stock.adobe.com

In ihrer Studie interessiert sich Melanie Arndt insbesondere für die „sozialen und politischen Folgen des Zusammentreffens der nuklearen Katastrophe mit dem Untergang einer Weltordnung“ – nämlich dem Ende der Aufteilung der Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke im Kalten Krieg. Als Indikator für die vielfältigen Auswirkungen dieses Zusammentreffens wählte die Historikerin das Phänomen der so genannten Tschernobylkinder. Nach der atomaren Katastrophe von 1986 wurden aus gesundheitlichen Gründen Kinder und Jugendliche in nicht kontaminierte Gebiete im In- und Ausland verschickt. Für diese Erholungsfahrten etablierte sich ein Netzwerk von sowjetischen und ausländischen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen. Dass „humanitäre Hilfe eine Form des Politischen“ sei, ist eine Grundannahme des Buchs. „Es hat sich vor allem gezeigt, dass transnationale Netzwerke die Strategien der Helferinnen und Helfer maßgeblich beeinflussten. Nicht zuletzt durch ihre Arbeit wurde der Kalte Krieg überwunden“, sagt die Forscherin.

Der Begriff „Tschernobylkinder“ kursiert in vielen unterschiedlichen Bedeutungsvarianten, bisweilen sogar als Allgemeinbezeichnung für junge Menschen aus Gebieten, die von der Strahlenemission am stärksten betroffen waren. Melanie Arndt verwendet ihn ausschließlich für Kinder und Jugendliche, die infolge der Katastrophe zur Erholung verschickt wurden. Die genaue Zahl ist nicht erfasst; es dürften aber mehr als eine Million gewesen sein. Verschickt wurden sie aus den am stärksten vom radioaktiven Fallout betroffenen Ländern Belarus und Ukraine zunächst innerhalb der ehemaligen Sowjetunion. Dort kamen die Kinder und Jugendlichen meist in umfunktionierten Ferienlagern unter. Begehrter waren Plätze im Ausland, wo sie häufig von Gastfamilien aufgenommen wurden. Die meisten Tschernobylkinder fanden Erholung in Italien, gefolgt von Deutschland. Auch nach Kuba, in die USA und in zahlreiche andere westliche Länder wurden sie verschickt.

Aufenthalt beim Systemfeind

Ideologische Gegensätze waren dabei kein Hemmnis für Auslandsverschickungen, im Gegenteil, betont Arndt: „Es gab da eine große Neugier bei denjenigen, die die Kinder und Jugendlichen aufnahmen. Was steckt denn nun eigentlich hinter diesen Menschen, die in den Medien lange Zeit als Feinde dargestellt wurden, fragte man sich. Und dann ging es ja um Kinder, die zudem noch von großem Leid betroffen waren. Dass man ihnen zeigen wollte, welches das bessere System sei, machte das Helfen umso leichter.“

In der heutigen Geisterstadt Pripyat, die sich in unmittelbarer Nähe zu den Reaktoren befindet, sollte kurz nach dem Unfall ein Rummelplatz eröffnet werden. Foto: Crystoll/stock.adobe.com

Wie erlebten die Kinder ihren Aufenthalt beim Systemfeind? „Es war durchaus eine ambivalente Erfahrung, aber das Positive überwog“, erläutert die Historikerin. „Die Wahrnehmungen sind auch mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, schon deshalb, weil im Grunde vorwiegend Erfolgsgeschichten aufgegriffen und abgebildet wurden. Kinder mit negativen Erlebnissen meldeten und melden sich gar nicht erst zu Wort.“

Bemerkenswert findet Melanie Arndt, dass viele Tschernobylkinder die Zeit der Reaktorkatastrophe und der Verschickungen insgesamt als positive Erfahrung in Erinnerung behalten haben. „Das traumatische Erlebnis Tschernobyl wird sozusagen positiv überwölbt“, berichtet sie. „So bekommt man von ihnen etwa zu hören: ‚Ich habe im Ausland eine neue Kultur kennengelernt‘, oder ‚Ich wurde dort zur Kosmopolitin, ich habe die Welt gesehen und eine neue Sprache gelernt.‘ Und wenig später geht es dann doch auch um leidvolle und negative Dinge. Diese widersprüchlichen Erfahrungen stehen ziemlich unvermittelt nebeneinander. Vielleicht könnte man es als Strategie zur Traumabewältigung verstehen.“

Neue Welten erschließen

Für viele Erwachsene, die die Kinder bei ihren Erholungsfahrten begleiteten, waren die Reisen eine begehrte Möglichkeit, den Westen kennenzulernen, bemerkt die Historikerin: „Wichtig ist zu erkennen, dass ihr Engagement für die Kinder – ob bewusst oder unbewusst – tatsächlich auch eine Möglichkeit war, für sich selbst in dieser Zusammenbruchsgesellschaft einen Sinn zu stiften.“ Für viele hätten sich manchmal ganz neue berufliche Perspektiven eröffnet, und neue Lebensläufe seien entstanden. Als eindrückliches Beispiel führt Arndt den Werdegang eines ehemaligen Komsomolführers an. Seine Erfahrung als Leiter einer kommunistischen Jugendorganisation übertrug er gleichsam in die postsozialistische Zeit und stellte sein Talent einer halbstaatlichen Hilfsorganisation zur Verfügung.

Das Engagement in den zahlreichen, seit den späten 1980er Jahren entstandenen Hilfsorganisationen wie auch die Partnerschaften mit den westlichen Initiativen waren Melanie Arndt zufolge wichtig für die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Belarus und der Ukraine. „Auch im Westen stiftete das Engagement für die Tschernobylkinder für tausende kleine Initiativen und Individuen neuen Sinn: Man wurde gebraucht und konnte sich seinerseits neue Welten erschließen.“

Hans-Dieter Fronz