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Provokative Lust

In Deutschland verknüpften die 68er Sexualität und Politik – warum gab es diese explosive Mischung nicht in anderen Ländern?

Freiburg, 20.06.2018

Provokative Lust

Foto: michelangeloop/Fotolia

In Frankreich kontrollieren Direktorinnen von Mädchengymnasien, ob die Länge der Schulröcke züchtig genug ist, in England berichten die Schulzeitungen von den jüngsten Erfolgen des heimischen Cricket-Teams, in Deutschland sprühen Schülerinnen und Schüler „Vögeln statt turnen“ an die Wände der Sporthalle und fordern die Freigabe der Pille an Minderjährige: Die berühmt-berüchtigte „sexuelle Revolution“ von 1968 hatte nicht überall das gleiche Gesicht – und in manchen Ländern begann der Kampf um die Sexualität erst deutlich später.


Sexualität und Politik: Diese explosive Verbindung fand in den 1960er Jahren nur in Westdeutschland statt und bekam von der neuen Linken Auftrieb. Foto: michelangeloop/Fotolia

Die Rolling Stones rockten mit „I can’t get no satisfaction“ die Bühnen, im Woodstock-Dunst tanzten und kifften sich Tausende tagelang in Ekstase, in der Zeitschrift „Der Spiegel“ schockierte die Kommune I mit Nacktfotos das Establishment, und Slogans wie „Make love, not war“ reisten um die Welt und erweckten den Anschein, im Westen hätten langhaarige, friedliebende Hippies das Ruder an sich gerissen. Die Betonung liegt auf Anschein, hebt die Freiburger Historikerin Dr. Sonja Levsen hervor. Die in den vergangenen 50 Jahren medial verbreiteten ikonischen Bilder von 1968 führten die Betrachterinnen und Betrachter oftmals auf die falsche Fährte. „Auch die Geschichtswissenschaft deutet die ‚sexuelle Revolution‘ überwiegend als transnationales Phänomen – als Erscheinung der so genannten global sixties“, sagt die Privatdozentin. Sexuelle Befreiungsbewegungen, der Kampf und Krawall gegen den „Muff von 1.000 Jahren“ jedoch setzten nicht überall gleichzeitig und vor allem nicht auf gleiche Weise ein: „Die Sexualität spielte in den Protestbewegungen in Westdeutschland, Frankreich und Großbritannien jeweils sehr unterschiedliche Rollen“, betont Levsen. „Es lohnt sich, hier genauer hinzuschauen. Denn das wandelt auch unser Verständnis von diesen Gesellschaften.“

Triebstau und Faschismus

Beispiel Bundesrepublik. In Westdeutschland hätten mehrere Entwicklungen die „sexuelle Revolution“ vorbereitet und sie aus der Ecke einer verschämten Nischenerscheinung geholt, erklärt Levsen: „Eine Schlüsselfigur war der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der eine repressive Sexualmoral mit dem deutschen Faschismus in Zusammenhang brachte.“ Mitte der 1960er Jahre entdeckte die Bevölkerung den Schüler Sigmund Freuds und verschlang seine Bücher. Vielleicht boten die Schriften eine gefällige Erklärung für klaffende Wunden aus junger Vergangenheit. Nach nur wenigen Jahren galt es als Allgemeinplatz, grausame, autoritätshörige Untertanen als Resultat von sexuellem Triebstau zu begreifen. Für die Politisierung dieses Gedankengebäudes sorgte die neue Linke – in Westdeutschland war sie, spätestens nach dem Verbot der KPD Mitte der 1950er Jahre, konkurrenzlos: „Die neue Linke konnte sich selbst erfinden, ohne mit Widerspruch von links rechnen zu müssen. Sie musste neue Themen wie Sexualität entdecken, besetzen und sich mit ihnen profilieren.“


Ein Slogan reist um die Welt: Die 68er verbanden eine repressive Sexualmoral mit Krieg und hörigen Untertanen – von einer freien sexuellen Entfaltung hingegen versprachen sie sich Frieden. Foto: durantelallera/Fotolia

Ganz im Gegensatz zu Frankreich und England: „Dort hatten die linken Bewegungen um 1968 kaum etwas mit Sexualität am Hut“, sagt die Historikerin. In Frankreich dominierte die Alte Linke mit klassischen kommunistischen Themen das Geschehen und beeinflusste auch die studentischen Bewegungen. „Das Ziel der kommunistischen Partei war der Klassenkampf, und Homosexualität galt schlicht als Perversion der Bourgeoisie. Die Konservativen, die Katholiken und die Kommunisten verband eine deutliche Distanz zum Thema Sexualität.“ Weiter nördlich in Großbritannien arbeitete sich die New Left ebenfalls an Figuren und kommunistischen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts ab. Die Schlagwörter lauteten „Abkehr vom Stalinismus“ und „Neudenken des klassischen Marxismus“. Sowohl die „Sex, drugs and Rock’n’Roll“ verherrlichenden Stones als auch sexuelle Befreiungstheoretiker wie Herbert Marcuse betrachteten die Briten mit einer argwöhnisch gehobenen Augenbraue. „Sexualität wurde nicht als befreiend, sondern als eine potenzielle Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden wahrgenommen.“

Unterricht im Kuschelzimmer

Auch die studentischen und schulischen Protestbewegungen ähnelten sich wenig, hat Levsen herausgefunden. Während in der Bundesrepublik knapp 1.000 Schülerzeitungen zirkulierten und die radikaleren unter ihnen die Unterweisung in „luststeigernden Koituspraktiken“ sowie die Einrichtung von „Kuschelzimmern“ forderten, berichteten die britischen Nachbarn über die erfolgreich abgeschlossene Reparatur des Schuldachs, und die französische Schulpresse ließ sich höchstens zu einem höflichen „Wunsch“ nach biologisch korrektem Sexualkundeunterricht hinreißen.

Die Inszenierung von politisierter Sexualität zeige besonders, wie deutsch das Phänomen der „sexuellen Revolution“ war. Auftritt Kommune I: Rainer Langhans und Co. ließen sich nackt fotografieren und breiteten ihre Überlegungen zu freier Liebe und orgastischen Ausschweifungen zu jeder Gelegenheit medienwirksam aus. „Solche verbalen sowie bildlichen Provokationsstrategien fehlten in anderen Ländern ganz“, sagt Levsen. In Frankreich entwickelte sich nirgendwo ein vergleichbares WG-Leben. „Das rückt auch das öffentlich verbreitete Bild des Pariser Mai von 1968 in ein anderes Licht“, präzisiert die Forscherin. Egalité und fraternité: jede Menge. Sexualité hingegen: Fehlanzeige.


Der „Lahrer Schüler Digest“, kurz: LSD, fordert „den totalen Sexualunterricht“. Quelle: Stadtarchiv Lahr

England konnte immerhin mit einer waschechten Kommune aufwarten: „Die Mitglieder der London Street Commune besetzten ein Haus, lebten von weggeworfenen Lebensmitteln und nahmen Obdachlose auf.“ Diese Aktion jedoch verstanden die Kommunarden als Protest gegen Wohnungsmangel. Sex als Strategie für Politisierung oder Provokation tauchte bei der Gruppe nicht auf. Die britischen Proteste richteten sich vor allem gegen den Vietnamkrieg und Atomwaffen, sagt Levsen – und auch die englische und französische Presse berichtete kaum über die freizügigen Politspektakel der Westdeutschen.

Grenzen eines Vergleichs

Das Thema Sexualität erreichte in den 1970er Jahren auch Deutschlands westeuropäische Nachbarn. „Jedoch wurden die Debatten nie mit der gleichen Intensität ausgetragen, und Sex und Politik wurden nie vergleichbar eng zusammengedacht“, sagt Levsen. Ihre Gegenüberstellung der Länder zeigt die Grenzen eines jahrzehntelang bemühten Erklärungsmodells auf: „Die Entdeckung und Politisierung der Sexualität galt bisher als verständlicher Protest einer jungen Generation gegen die repressive, aus der Zeit gefallene Sexualmoral – befördert von Massenkonsum und Jugendkultur.“ Vergleichende Forschung lässt viele der angenommenen Ähnlichkeiten zwischen den Protestbewegungen, die oft als Grenzen übergreifender Gleichschritt in den Medien und Geschichtsbüchern präsentiert werden, schwinden – stattdessen häufen sich die Fragen nach den jeweiligen nationalen Umständen. So global können die global sixties wohl nicht gewesen sein.

Rimma Gerenstein