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Ungeklärte Konstanten

„Leiden“ und „Schmerz“ sind Schlüsselbegriffe der Medizin – bis heute sind sich Ärzte darüber uneinig, was sie eigentlich bedeuten

Freiburg, 27.11.2017

Ungeklärte Konstanten

Foto: Britt Schilling/Universitätsklinikum Freiburg

Sind Leiden und Schmerz unauflöslich mit dem menschlichen Dasein verbunden? Darf die Reproduktionsmedizin alles? Und was ist von der Anti-Aging-Medizin zu halten? Auf Fragen wie diese hat Dr. Claudia Bozzaro Antworten. Die Philosophin arbeitet am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg. Für ihre Forschung erhält Bozzaro den mit 10.000 Euro dotierten Albert-Bürklin-Preis der Wissenschaftlichen Gesellschaft. Hans-Dieter Fronz hat sich mit der Philosophin unterhalten.


Schmerz und Leiden gehören zum Alltag in der Medizin – Disziplinen wie die Philosophie können dabei helfen, die Begriffe zu bestimmen. Foto: Britt Schilling/Universitätsklinikum Freiburg

Frau Bozzaro, einer Ihrer Aufsätze trägt die Überschrift „Existentielles Leiden im Krankenhaus“. Was ist darunter zu verstehen?

Claudia Bozzaro: Den Begriff des „existentiellen Leidens“ hat die Palliativmedizin eingeführt. Diese Disziplin verfolgt einen holistischen Ansatz und bezieht neben dem körperlichen Leiden etwa auch soziales oder spirituelles mit ein. Und eben auch existentielles Leiden, das auf diese Weise zum Gegenstand der Medizin wurde.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Momentan steht im Fokus meiner Arbeit die Frage, wie „Schmerz“ und „Leiden“ aus medizinischer Sicht zu definieren sind. Die Medizin soll ja Schmerz und Leiden lindern, aber was versteht man als Medizinerin oder als Mediziner eigentlich unter diesen Phänomenen? Und soll die Medizin für ganz viele unterschiedliche Formen von Leiden zuständig sein? Das sind natürlich Schlüsselbegriffe, aber in der Regel kann die Medizin sie nicht alleine definieren. Diese Erfahrungen hängen immer auch von gesellschaftlichen und kulturellen Deutungen ab. Ich versuche zum Beispiel aufzuzeigen, dass es auch eine Gefahr sein kann, wenn etwa das Leiden an einem Gefühl von Traurigkeit am Lebensende oder die Sorge, anderen zur Last zu fallen, plötzlich medikalisiert oder pathologisiert werden.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen?

Auf den Umgang mit Schmerz und Leiden bin ich durch die Beobachtung der klinischen Praxis bei einer Ethikberatung aufmerksam geworden. Es ging um eine bestimmte Form der palliativmedizinischen Versorgung, nämlich um die palliative Sedierung. Dabei werden Patientinnen und Patienten in ihrem Bewusstsein gemindert. Das ist eine Maßnahme im Graubereich, über die ich inzwischen viel geschrieben habe. Sie ist unter ethischen Gesichtspunkten sehr umstritten. Mir fiel bei dieser Beratung auf, dass den Ärztinnen und Ärzten selbst nicht klar war, wann eigentlich ein Zustand unerträglichen Leidens gegeben ist, der eine solche Maßnahme als sinnvoll erscheinen lassen könnte. Ich habe gemerkt: Da ist ein Bedarf an einer begrifflichen Klärung, die gerade auch durch philosophische Reflexion geleistet werden kann.


Die Erwartung an die Medizin, Erfahrungen von Schmerz gänzlich auszulöschen, verkennt etwas genuin Menschliches, argumentiert Claudia Bozzaro. Foto: Thomas Kunz

Gehören Schmerz und Leiden zur menschlichen Existenz notwendig dazu?

Ja, wobei ich sehr für eine Differenzierung plädieren würde. Ich glaube, die Erfahrung von Schmerz und Leiden ist tatsächlich eine anthropologische Konstante in dem Sinne, dass wir alle einen Körper haben, der krank werden und leiden kann. Und letztendlich sind wir alle sterblich. Das heißt unsere Konstitution, unsere Natur macht uns für Schmerz und Leidenserfahrungen anfällig. Die Erwartung an die Medizin, diese negativen Erfahrungen zu eliminieren, ist eine Utopie, die etwas genuin Menschliches verkennt. Die Kunst der Medizin muss darin bestehen, vermeidbare Schmerz- und Leidenserfahrungen zu lindern und zu bekämpfen. Das darf aber nicht in dem Willen zu ihrer vollkommenen Auslöschung münden.

Wie muss man sich die Umsetzung medizinethischer Einsichten in der Praxis vorstellen – als Beratungstätigkeit in Bundestagsausschüssen oder ähnlichen Gremien und Kommissionen?

Das ist nur eine Form, Einfluss zu nehmen. Aber es gibt noch andere Wege – zum Beispiel durch Publikationen oder durch Unterricht und Lehre; dort fließen meine Ergebnisse natürlich mit ein. Im Jahr 2015 hat man mich zum Beispiel gebeten, an der „Österreichischen Nationalen Leitlinie zur Palliativen Sedierungstherapie“ mitzuwirken, die Palliativmedizinern Orientierung in ihrem Handeln geben soll. Das ist ein ganz konkretes Beispiel, wie meine theoretische Arbeit in der Praxis Anwendung findet.

 

Höhepunkte der Forschung

Die Wissenschaftliche Gesellschaft Freiburg vergibt den Albert-Bürklin-Preis für Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften 2017 an Dr. Claudia Bozzaro. Die Philosophin erhält die Auszeichnung für ihre herausragenden wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Medizinethik, in denen sie sich schwerpunktmäßig mit Konzepten des Leidens und des Schmerzes befasst. Die Preisverleihung findet am 29. November 2017 ab 19 Uhr im Rahmen der öffentlichen Veranstaltung „Höhepunkte der Forschung“ statt. Neben einem Vortrag der Preisträgerin hält Prof. Dr. Frank Hutter vom Institut für Informatik den Festvortrag zum Thema „Maschinelles Lernen: Chancen und existenzielle Risiken für die Menschheit“. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen.

Höhepunkte der Forschung