Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken „Wie Gespenster in der …

„Wie Gespenster in der Gegenwart“

Für Freiburger Forschende bildet der Philosoph Friedrich Nietzsche einen Knotenpunkt für gemeinsame Projekte, die Geistesgeschichte aus mehr als 200 Jahren umfassen

Freiburg, 21.07.2021

2019 hat die Universität Freiburg dem Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) eine eigene Einrichtung gewidmet – die einzige dieser Art im deutschsprachigen Raum: Im Nietzsche-Forschungszentrum (NFZ) arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen an gemeinsamen Projekten, die die gesellschaftliche Relevanz des Philologen und umstrittenen Philosophen verdeutlichen. Am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg dient Nietzsche als eine zentrale Drehscheibe, die es Forschenden ermöglicht, ihre jeweiligen Schwerpunkte miteinander in Dialog zu setzen.

Foto: Harald NeumannDas Philosophische Seminar befindet sich im Kollegiengebäude I der Universität Freiburg. Foto: Harald Neumann

Er gilt als eine Figur der Krise und des Umbruchs – von vielen verehrt, fehlgedeutet und gefürchtet, ist er auch weit über seinen Tod hinaus rätselhaft und relevant geblieben: „Friedrich Nietzsche ist für viele historische, aber auch zeitgenössische Debatten ein zentraler Knotenpunkt. Seine Gedanken, oft verzerrt, wirken bis ins 21. Jahrhundert fort, wie Gespenster in der Gegenwart“, sagt Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, der eine Professur für Kulturphilosophie innehat und dem NFZ als Direktor vorsteht. Im Zentrum floriere die Nietzsche-Forschung über viele Fakultäten hinweg, berichtet Sommer.

Seit der Gründung sind mehrere Publikationen abgeschlossen worden, etwa über Nietzsche und die Reformation. Ein Band über Nietzsches Nachlass und ein anderer über Nietzsche und den französischen Existentialismus sind gerade in der Mache, und unterschiedliche Arbeitsgruppen befassen sich jenseits konventioneller Denkpfade mit dem Philosophen: Eine Gruppe etwa, die sich am Freiburg Institute for Basic Income Studies (FRIBIS) mit Partizipation und bedingungslosem Grundeinkommen beschäftigt, bringt Nietzsches Vorstellungen freigeistiger Kreativität damit in Zusammenhang. Bei einem anderen Forschungsteam spielen Nietzsches grundlegende Überlegungen zum Ressentiment im Blick auf heutiges populistisches Gedankengut eine wichtige Rolle.

„Nietzsche steht für eine Zeit, in der feste Vorstellungen von Gut und Böse ins Wanken gerieten“, bilanziert Sommer. Überzeugungen, die das Christentum oder die Aufklärung für natur- oder gar gottgegeben erachteten, konnten der chaotischen und bedrohlichen Lebensrealität der Moderne nicht mehr standhalten. Die Gesellschaft begann, sich über neue Werte zu verständigen – und sie waren vielfältig, unterschiedlich und sogar widersprüchlich. „Nietzsche ist für unsere heutige Diskussion über Werte so interessant, weil er eine radikal kritische Art der Reflexion über Werte vorlebt“, führt Sommer aus – und diese sei losgelöst von Nietzsches eignen Wertvorstellungen, etwa den Irrungen und Wirrungen rund um den umstrittenen Begriff des „Willens zur Macht“, zu betrachten.

Freiburger Traditionen: Hermeneutik und Phänomenologie

Das NFZ startete mit der Beteiligung der Fakultäten Philosophie, Philologie, Theologie, Jura und Medizin. Inzwischen sind auch die Wirtschaftswissenschaften hinzugekommen. Doch es muss nicht immer der fakultätsübergreifende Zusammenschluss sein: „Auch am Philosophischen Seminar dient uns Nietzsche als eine Schnittstelle, die viele Perspektiven und Forschungsinteressen produktiv verbindet“, sagt Juniorprofessor Dr. Philipp Schwab, Geschäftsführender Direktor des Seminars. „Einerseits verweist Nietzsche zurück auf die Auseinandersetzung mit den klassischen Traditionen der Philosophiegeschichte, die in Freiburg intensiv bearbeitet werden. Andererseits deutet er ins 20. und 21. Jahrhundert voraus, weil er einer der prominentesten Gesprächspartner ist, mit dem Philosophie und Wissenschaft eine Selbstverständigung über die jeweils eigene Zeit suchen“, erläutert der Seminardirektor.

Zu Schwabs Interessen gehört zum Beispiel die Frage, wie Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, die berühmten Köpfe der Klassischen deutschen Philosophie um 1800, das Denken des Nachkömmlings Nietzsche geprägt haben. Die Freiburger Traditionen von Hermeneutik und Phänomenologie stehen ebenfalls im Dialog mit Nietzsche, allerdings durch das Brennglas einer anderen prominenten Figur: „Martin Heidegger hat sich sein ganzes Leben lang an Nietzsche abgearbeitet. In den 1930er Jahren ging er bei seinen Vorlesungen in Freiburg der Frage nach, wie die Philosophie sich noch verorten kann, wenn als unverrückbar geltende Traditionen und Überzeugungen wegbrechen.“

Auch die französische Phänomenologie und der Poststrukturalismus mit Vertretern wie Paul Ricœur, Michel Foucault und Jacques Derrida beziehen sich immer wieder auf Nietzsche, oft in der kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers umstrittenen Nietzsche-Lektüren. Das sei ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil der „Freiburger Tradition“, die das krisenhafte 20. Jahrhundert ergründe, und am Philosophischen Seminar fortgeschrieben werde, betont Schwab. Die Professur für Hermeneutik und Phänomenologie, die einen Großteil dieser Tradition bündelt, ist derzeit ausgeschrieben.

Die Transformation der modernen Welt untersuchen

Die Nietzsche-Brücke ins 21. Jahrhundert schlägt Prof. Dr. Oliver Müller, der die historischen Linien der Technikphilosophie in den Blick nimmt. Im Mittelpunkt von Müllers aktuellem Interesse steht der so genannte Transhumanismus, „eine zur Hälfte philosophische und zur Hälfte techno-euphorische Bewegung, die versucht, den Menschen mit biomedizinischen Mitteln komplett umzubauen, um ein Wesen zu erschaffen, das wesentliche Merkmale des heutigen Menschendaseins abgelegt hat“, erklärt er. Das könnte zum Beispiel ein Wesen sein, das über immense geistige und körperliche Kräfte verfügt, unverwundbar oder gar unsterblich ist. Viele Vertreterinnen und Vertreter der Bewegung sehen die geistigen Wurzeln im Menschenbild und Fortschrittsoptimismus der Renaissance und Aufklärung begründet. „Transhumanistische Debatten sind in den vergangenen Jahren aber auch verstärkt in Bezug zu Friedrich Nietzsche geführt worden“, betont Müller, „man denke nur an sein Konzept des ‚Übermenschen‘ – das Überschreiten des Menschlichen, das Über-sich-selbst-Hinauswachsen wird dann gern als prototranshumanistisches Programm gedeutet.“

Müller möchte am NFZ unter anderem untersuchen, welche Rolle Nietzsche für die unterschiedlichen Strömungen des Transhumanismus spielt, „denn es gibt in der Fachwelt durchaus widersprüchliche Ansichten darüber.“ Bei diesem Vorhaben wird auch die Begegnung mit Heideggers Werk und dessen Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht ausbleiben. Wie andere Philosophinnen und Philosophen begann Heidegger ab den 1920er Jahren zu begreifen, dass man die Technik zum Gegenstand philosophischer Reflexion zu machen hatte. Der Erste Weltkrieg veränderte die Gesellschaft drastisch und vermittelte den Menschen den Eindruck, dass ihre Realität der Technik völlig untergeordnet wurde. „Man merkte, dass die Technik mehr war als nur Werkzeuggebrauch“, führt Müller aus – und daher wurde sie zu einem neuen Thema in der Philosophie: „Neben die klassischen Disziplinen wie Ontologie, Metaphysik und Ethik trat nun die Philosophie der Technik, in der darüber nachgedacht wird, wie sich unser Selbst- und Weltverhältnis in der modernen technischen Zivilisation ändert.“ Im Austausch mit seinen Kolleginnen und Kollegen am NFZ will er ergründen, auf welche Weise Nietzsches Übermenschenfigur in den Diskursen der 1920er bis 1950er Jahre aufgegriffen und transformiert wurde, um in einer Zeit der existenziellen Wirren nach Orientierung zu suchen. Auch diese Perspektive trägt zur Untersuchung von Transformationsprozessen der modernen Welt bei – einem Schwerpunkt, in dem sich die Arbeitsbereiche des Philosophischen Seminars miteinander vernetzen.

In den kommenden Semestern will das NFZ Friedrich Nietzsche zunehmend aus der Fachwelt in die Öffentlichkeit tragen: Geplant ist unter anderem eine Vorlesungsreihe, die Aspekte seines Lebens und Wirkens Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen soll, berichtet Andreas Urs Sommer. „Sobald wir es pandemiebedingt dürfen, wollen wir wieder große Hörsäle füllen“, sagt der NFZ-Direktor. Das „Nietzsche-Gespenst“ wird also weiterhin seine Kreise ziehen – nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in naher Zukunft.

Rimma Gerenstein

 

Philosophisches Seminar
In den vergangenen Jahren hat sich das Philosophische Seminar der Universität Freiburg neu aufgestellt: Zu den heutigen Schwerpunkten zählen die Vormoderne und die Islamische Welt, die Philosophie der Gegenwart und Technik, die Kulturphilosophie mit Schwerpunkt Nietzsche, die Klassische deutsche Philosophie und ihre Rezeption sowie die Freiburger Traditionen in Phänomenologie und Hermeneutik.

Philosophisches Seminar der Universität Freiburg

Nietzsche-Forschungszentrum