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Geächtet, geduldet, geliebt

Der Freiburger Historiker Michel Abeßer hat die Entwicklung des sowjetischen Jazz nach Stalins Tod untersucht

Freiburg, 02.09.2016

 Geächtet, geduldet, geliebt

Ideologische Klänge: Der Glaube an die kommunistische Zukunft und Jazzsynkopen mussten in der Sowjetunion der 1960er Jahre kein Widerspruch mehr sein. Foto: Michail Kull

Wie konnte sich der Jazz in der Sowjetunion von einer ideologisch verfemten Musikform Ende der 1940er Jahre zu einem akzeptierten Teil der Kultur nach Josef Stalins Tod wandeln? Mit dieser Frage hat sich Michel Abeßer vom Historischen Seminar der Universität Freiburg in seiner Dissertation beschäftigt. Auf Grundlage von Archivmaterial, Presseartikeln, Memoiren und Interviews hat er anhand der Jazzmusik untersucht, wie tiefgreifend sich die sowjetische Gesellschaft und Kulturpolitik während der Entstalinisierung nach 1953 und des Kalten Krieges veränderten.

Am Beispiel der russischen Städte Moskau und Leningrad sowie der estnischen Hauptstadt Tallin zeigt Abeßer, wie der Jazz verbreitet, aufgenommen, gedeutet und kontrolliert wurde. „Die lukrative aber ideologisch umstrittene Tanzmusik wurde zum Integrationsangebot an die wachsende städtische Bevölkerung“, sagt der Historiker. Widersprüchliche politische Reformen und ideologische Unsicherheiten nach Stalins Tod 1953 hätten es den Mitgliedern des Zensurapparates, der staatlichen Konzertorganisationen und der Medienproduktion erschwert, mit den zunehmenden westlichen Einflüssen auf die Populärkultur umzugehen. In der wachsenden Beliebtheit des Jazz sahen viele Kulturfunktionäre, im Gegensatz zur Parteispitze, die Chance auf Gewinne für die sowjetischen Konzertorganisationen, deren Arbeit einem deutlichen Sparkurs unterworfen wurde, so Abeßer.

Zudem analysiert der Forscher das Milieu jugendlicher sowjetischer Jazzenthusiastinnen und -enthusiasten und zeigt, wie Improvisation als soziale Praxis unter dem Dach des Komsomol – der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion – umgedeutet und sowjetisch gemacht wurde. So erhielten junge Musiker in Jazzklubs und Jugendcafés nach Jahren des illegalen Spielens in der musikalischen Schattenwirtschaft erstmals die Möglichkeit, vor Publikum aufzutreten und zu improvisieren. Indem die zukünftigen Eliten der Bürokratie in den 1960er Jahren den an diesen Orten gespielten Jazz hörten, grenzten sie sich sozial gegenüber ihren Altersgenossen ab: Diese hatten sich bereits der aufkommenden Rockmusik verschrieben. Abeßer kommt zu dem Ergebnis, dass die Nachwuchsgeneration des Parteiapparates den Jazz für sich beanspruchte und hinterfragt damit den antitotalitären Mythos der Musik.

Am Beispiel der Auftritte des US-amerikanischen Jazzmusikers Benny Goodman und seiner 19-köpfigen Band in der Sowjetunion 1962 zeigt Abeßer zudem, wie relevant der Jazz als kultureller Aspekt des Kalten Kriegs war: Die US-amerikanische Regierung veranlasste die Tournee, um das Image der Vereinigten Staaten bei der sowjetischen Bevölkerung zu verbessern. Informelle Treffen und Jam-Sessions zwischen den amerikanischen und sowjetischen Jazzmusikern konnten in manchen Fällen auch politische Trennungen unterlaufen.


Kontakt:

Michel Abeßer
Historisches Seminar
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Tel.: 0761/203-3456
E-Mail: michel.abesser@geschichte.uni-freiburg.de


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