Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken „Da reden wir von einem …

„Da reden wir von einem ungewissen Zeitraum“

Der Mediziner Hartmut Hengel erklärt, warum es so lange dauert, Impfstoffe gegen das neue Coronavirus zu entwickeln

Freiburg, 27.03.2020

Mitte bis Ende 2021. Dann, glauben manche Fachleute, könne ein wirkungsvoller und sicherer Impfstoff gegen das neue Coronavirus SARS-CoV2 in großer Menge verfügbar sein. Daran zweifelt Prof. Dr. Hartmut Hengel, Ärztlicher Direktor des Instituts für Virologie der Universitätsklinik Freiburg: Bei den jüngeren Verfahren fehle die Erfahrung, bei den älteren dauerten die Entwicklung und Sicherheitsprüfungen lange.


Die Coronaviren sind eine Virusfamilie mit zahlreichen Mitgliedern, die sich auf mehrere Gattungen verteilen. Das neue Coronavirus ist seit Ende 2019 bekannt – und ansteckender als seine Verwandten. Foto: photoguns/stock.adobe.com

Wann kommt der Corona-Impfstoff? „Da reden wir von einem ungewissen Zeitraum“, bremst Hartmut Hengel zu hohe Erwartungen: 2021 werde es kaum einen Impfstoff geben, der eine Zulassung hat und eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut. Hengel weiß, wovon er spricht. Er war zehn Jahre lang STIKO-Mitglied, ist aktuell Stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Paul-Ehrlich-Instituts – dem Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel –, und amtierender Präsident der Gesellschaft für Virologie.

„Wir hatten schon einmal ähnliche Viren auf dem Tisch“, erzählt Hengel. Ausgehend von Südchina verbreitete sich ab November 2002 das Schwere Akute Respiratorische Syndrom SARS über fast alle Kontinente. Bis zum offiziellen Ende der Pandemie im Mai 2004 erkrankten etwas mehr als 8.000 Menschen. Fast 800 Personen starben – nahezu 10 Prozent der Betroffenen. Der Erreger erhielt die Bezeichnung SARS-CoV1.

Sein Erbgut entspricht zu etwa 80 Prozent dem des aktuell kursierenden Coronavirus SARS-CoV2. „Sie sind Brüder oder zumindest nahe Verwandte“, sagt Hengel. Doch die 20 Prozent genetische Unterschiede haben Folgen. „Die Erreger haben verschiedene Wirkungen auf Menschen.“ Das verdeutlichen schon die Zahlen zu Covid 19, der Erkrankung, die SARS-CoV2 verursacht: Das Virus ist im Vergleich ansteckender. Covid 19 greift schneller um sich, aber fordert prozentual weniger Todesopfer als SARS.

Das Spike-Protein gilt als Schlüssel zur Immunität

Entsprechend gibt es molekulare Differenzen. „Die Spike-Proteine der beiden Viren sind deutlich anders“, nennt Hengel ein wichtiges Beispiel. Spike gilt als Schlüssel zur Immunität. „Es ist das Hauptantigen der Coronaviren.“ Die ersehnten aktiven Impfstoffe sollen das menschliche Immunsystem dazu anregen, Antikörper gegen Spike herzustellen und so Infektionen zu verhindern. Mit dem Oberflächenprotein docken Coronaviren an ihre Wirtszellen an. Danach bahnt Spike den Erregern einen Weg ins Zellinnere. Doch Forschende im US-Bundesstaat Texas haben beobachtet: Hoch spezifische Antikörper erkennen zwar das Spike-Protein von SARS-CoV1, aber sie erkennen nicht das Spike-Protein von SARS-CoV2. Letzteres habe beispielsweise eine Enzym-Schnittstelle, die seinen Verwandten fehle, erläutert Hengel: „Solche Details können große Unterschiede ausmachen.“ Viel lernen können Forscherinnen und Forscher nicht von den Impfstoffen, die bestimmte Coronaviren bei Tieren bekämpfen sollen. „Ihre Wirkung war sowieso nicht berauschend“, bedauert der Fachmann.

Passive Impfung mit Antikörpern

Unterschiedliche Strategien zur Impfstoffentwicklung haben auch unterschiedliche Vorzüge und Nachteile. „In China hat man vereinzelt passive Impfungen bei Infektionen mit SARS-CoV2 gemacht, offenbar auch mit gewisser Wirkung“, sagt Hengel. Bei passiven Impfungen erhalten Patientinnen und Patienten fertige Antikörper, etwa von geheilten Patienten. Der Vorteil: Die Antikörper schützen sofort. Doch der Schutz endet rasch, weil Geimpfte die injizierten Antikörper abbauen und selbst keine bilden. „Passive Impfungen eignen sich höchstens für Einzelfälle.“

Aktive Impfungen – entschärfte Viren oder einzelne Bausteine

„Aktive Impfungen rufen langfristig Immunität hervor“, betont Hengel. Manche Impfstoffe wie etwa gegen Mumps, Röteln und Gelbfieber enthalten vermehrungsfähige, jedoch abgeschwächte Viren. „Die besitzen noch einen Rest Virulenz.“ Menschen mit stark geschwächtem Immunsystem, zum Beispiel nach Transplantationen oder während Chemotherapien, dürfen solche Impfungen nicht erhalten. Außerdem könnte es knifflig sein, SARS-CoV2 so abzuschwächen, dass der Virus nicht mehr krank macht, aber eine Immunreaktion auslöst, die weder zu schwach noch gefährlich stark ausfällt.

Überschießende Immunreaktionen können schwere Nebenwirkungen auslösen. Dieses Risiko besteht bei Impfstoffen, die auf einzelne, isolierte Virenproteine plus Wirkstoffverstärker setzen. Hengel erinnert an Pandemrix, einen Impfstoff gegen die Schweinegrippe, die in den Jahren 2009 und 2010 herum ging. Die Substanz hat zu Fällen der schweren Erkrankung Narkolepsie geführt – wahrscheinlich wegen des Wirkstoffverstärkers. „Sie können schon in der Entwicklung Probleme machen. Bei solchen Impfstoffen sind viele Sicherheitsstudien nötig, auch langzeitige.“ Nebenwirkungen können so selten auftreten, dass sie in Zulassungsstudien nicht erfasst werden können.

Aktive Impfungen mit Bauanleitungen – Nukleinsäuren

Nukleinsäuren. Damit könnten die Körper der Geimpften selbst jene Virus-Proteine herstellen, auf die ihr Immunsystem reagieren soll. Die Impfstoffe enthalten entweder nur mRNA, eine Abschrift von Genen wie dem für das Spike-Protein. Dann muss diese Bauanleitung von allein in Zellen gelangen. Andere Impfstoffe betten mRNAs in einen Vektor ein – in das Erbgut eines anderen Virus, der die Bauanleitungen in die Zellen einschleust.

„Vom Prinzip her ist das Verfahren mit der reinen mRNA sicherer“, sagt Hengel, „Ohne Vektor können Zellen die mRNA nicht in ihr eigenes Erbgut einbauen.“ Denn wenn das geschieht, ergeben sich neue Unsicherheiten. Grundsätzlich fehle Erfahrung mit den jungen Methoden: „Bisher gibt es dafür kein einziges breites Impfprogramm.“ Nur bei einzelnen schwerkranken Tumorpatienten, also unter völlig anderen Umständen, hätten Medizinerinnen und Mediziner das Verfahren schon angewendet, erzählt der Experte: „Für die Masse eigenen sich diese Impfstoffe im Moment noch nicht, weil niemand ihre Risiken genau kennt.“

Ach, wär’s doch eine neue Grippe

Wahrscheinlich finden bis Ende 2021 klinischen Studien mit mehreren Impfstoffen statt. Hengel glaubt aber nicht, dass einer zu diesem Zeitpunkt alle klinischen Phasen hinter sich haben wird, zugelassen ist und von der STIKO empfohlen werden kann. Die Empfehlung garantiert hohen Schutz bei geringen Risiken. Der Fachmann will sich gar nicht darauf einlassen, vorherzusagen, wann ein sicherer Impfstoff gegen SARS-CoV2 in großen Mengen erhältlich sein könnte. Alles wäre viel einfacher, würde es sich um einen neuen Stamm von Grippeviren handeln. „Gegen Influenzaviren haben wir sehr zuverlässige Impfstoffe, in die wir neue Antigene einbauen können. Wenn’s gut läuft, hätten wir einen neuen Grippe-Impfstoff nach drei Monaten.“

Jürgen Schickinger

 

Coronaviren: Virusfamilie mit zahlreichen Mitgliedern, die sich auf zwei Unterfamilien, mehrere Gattungen und Untergattungen verteilen.

SARS-CoV1: Erreger von SARS, dem Schweren Akuten Respiratorischen Syndrom, das sich 2002 und 2003 pandemisch ausbreitete.

SARS-CoV2: Erreger von Covid 19, der akuten Atemwegserkrankung, die sich seit Dezember 2019 als Pandemie über die Erde verbreitet.

Covid 19: Bezeichnung der akuten Atemwegserkrankung, die das Virus SARS-CoV2 derzeit weltweit verursacht.