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Die Viren-Mutationslotterie

Potenziell gefährliche Erreger sind in der Schweinezucht nur selten – trotzdem schlummert in den Tieren die nächste Pandemie

Freiburg, 03.09.2020

Pandemien sind unvermeidbar. Um die akute Gefahr durch Influenza A-Viren besser einschätzen zu können, hat Prof. Dr. Martin Schwemmle in einer großen europaweiten Kooperation 2.500 Schweinehaltungsbetriebe untersucht. Der Virologe von der Abteilung für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene des Universitätsklinikums Freiburg und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter wurden fündig: Sie entdeckten potenziell gefährliche Viren, denen nicht mehr viel fehlt, um neue Pandemien zu verursachen. Darum plädieren die Forschenden für bessere Schutz- und Vorsorgemaßnahmen. Zwar waren die heiklen Erreger nur ein seltener Fund, doch die Viren-Mutationslotterie in Schweinen läuft unaufhaltsam.


Einblick in die Schweinezucht: Mehr als 18.000 Einzelproben aus fast 2.500 Betrieben in Europa haben die Forschenden gesammelt und geprüft. Foto: oyoo/stock.adobe.com

Schweine sind Brutstätten für neue Grippeviren. Das wissen Fachleute längst. Von einer „ernsten Bedrohung der menschlichen Gesundheit“ durch neue Grippeviren in Schweinen berichtete kürzlich eine chinesische Studie. „Totaler Quatsch“, meint Martin Schwemmle. „Das ist Panikmache.“ Der Freiburger Virologe und das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) haben federführend eine vergleichbare große Studie an europäischen Schweinezuchtbetrieben gemacht: mehr als 18.000 Einzelproben aus fast 2.500 Betrieben. Dort entstehen laufend neue Virusvarianten, so genannte Reassortanten. „Wir haben potenziell gefährliche Reassortanten gefunden“, räumt Schwemmle ein, aber beruhigt sofort: „Sie sind seltene Ereignisse.“

Schwemmle will weder Ängste schüren noch die Lage verharmlosen. „In Schweinen schlummert die nächste Pandemie“, davon ist der Fachmann überzeugt. Doch die entscheidende Frage lautet: Schlummert sie tief, oder ist die Pandemie kurz vor dem Aufwachen? Mit ihrer Studie zur Schweinezucht wollten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ermitteln, wie oft Influenza A-Viren (IAV) dort vorkommen, welche IAV-Varianten in europäischen Schweinen kursieren und ob die Viren über zoonotisches Potenzial verfügen. „Das bedeutet, dass sie fähig sind, von Schweinen auf Menschen überzugehen“, erklärt Schwemmle. Ohne Zoonosefähigkeit kann keine Pandemie ausbrechen, zumindest nicht unter Menschen.

Viren, die sich begegnen und vermischen

In mehr als der Hälfte der Betriebe fanden die Forschungsgruppen ganzjährig Influenzavirusinfektionen bei Schweinen. Bei den untersuchten IAV dominieren in Europa vier Basislinien, deren Häufigkeit sich regional unterscheidet. In Zuchtschweinen kann sich das Quartett begegnen und vermischen – reassortieren. Das Erbgut der IAV besteht aus je acht Segmenten. Sie sind entfernt mit den Chromosomen vergleichbar, auf die sich das menschliche Genom verteilt. „Wenn zwei verschiedene IAV eine Zelle infizieren, können sie eines oder mehrere der Segmente untereinander austauschen“, erläutert Schwemmle. Dabei wechseln mitunter ganze Blöcke an Eigenschaften den viralen Besitzer.

Doch welche Eigenschaften machen IAV für Menschen überhaupt gefährlich? „Eine Riesenrolle spielt die MxA-Resistenz“, so der Wissenschaftler. Das Protein MxA gehört zum angeborenen Immunsystem des Menschen. MxA erkennt IAV und hemmt ihre Vermehrung. Damit besitzen Menschen selbst ohne entsprechende Antikörper einen gewissen Schutz vor diesen Erregern. Schon 2017 hat eine Freiburger Kooperation, an der Schwemmle beteiligt war, ein MxA-Testsystem entwickelt. Es zeigt, ob und wie stark IAV an die Menschen und ihr MxA angepasst sind – wie ansteckend die Viren für Menschen werden können. „Einige IAV, die wir in Europa gefunden haben, sind nahezu MxA-resistent.“ Diese Reassortanten schaffen den Sprung vom Schwein zum Mensch.

Vogel, Schwein, Mensch

Woher kommt diese Resistenz gegen ein menschliches Protein wie MxA? „Wenn IAV-infizierte Menschen Schweine anhusten“, nennt Schwemmle ein Beispiel. „Die angesteckten Tiere müssen nicht immer richtig krank werden, aber entwickeln sich oft schlechter.“ Und in ihnen tummeln sich nun Viren, die an Menschen angepasst sind. Noch von einer weiteren Seite kommt Input: Schweine können sich ebenso bei Vögeln mit IAV anstecken. „Für sie herrschen in der Vogelwelt dramatisch gute Bedingungen.“ Vögel haben zwar ein Mx-Protein, nur Viren bekämpft es nicht. Dem Federvieh fehlt eine vergleichbare antivirale Barriere wie MxA. Hier können IAV-Gene, die eine MxA-Resistenz bedingen, ohne Funktionsdruck wild mutieren. Zahllose neuartige Vogel-IAV-Kombinationen stoßen nach dem Sprung über die Artengrenze im Schwein auf Mx1 – ein schwächliches Gegenstück zum menschlichen MxA. An Mx1 scheitern nur wenige IAV. Es bildet eine niedrige Hürde. Sie zu nehmen ist für IAV aus Vögeln der erste Schritt zur Anpassung an Säugetiere, führt der Virologe aus: „Damit wird auch die größere Hürde durch das menschliche MxA kleiner.“

Der Joker im Spiel, ein unheilbringender Trumpf, sei die Reassortierug, sagt Schwemmle. Im Schwein können sich IAV-Gensegmente aus Schweinen, Vögeln und Menschen begegnen und vermischen. Es ist fast wie am Geldspielautomat mit drei Walzen. Stoppen alle drei beim „richtigen“ Symbol, hieße das: Katastrophen-Jackpot, die optimale Kombination pandemischer IAV-Eigenschaften. Solche Erreger mit „allen essenziellen Kennzeichen eines pandemischen Kandidaten“ behaupten die Autoren der chinesischen Studie in ihrer Heimat gefunden zu haben. Das halten das FLI, Schwemmle und die Kooperationspartner für überzogen: Die gefundenen IAV-Reassortanten hätten zoonotisches Potenzial, aber noch lange kein pandemisches. Dafür müssen Viren noch eine Hürde nehmen, nämlich von Mensch zu Mensch übertragbar sein.

Vorsorgliche Impfstoffe können helfen

Dem menschlichen Infektionsgeschehen nahe kommt das Frettchen-Modell. Damit haben die FLI-Teams um Prof. Dr. Martin Beer und Prof. Dr. Timm Harder geprüft, wie infektiös einige europäische IAV-Reassortanten sind. Nur eine Kombination konnte sich unter den Tieren verbreiten. „Alle anderen Kombinationen haben nicht funktioniert“, sagt Schwemmle. Seine Arbeitsgruppe hat zudem festgestellt, dass Menschen, die gegen Grippe geimpft sind, gegen alle getesteten IAV-Reassortanten Antikörper haben. „Das Ausmaß, wie gut sie geschützt sind, ist unterschiedlich. Aber es reicht, damit sich diese IAV nur schlecht ausbreiten können. Sie sind dann nicht fit genug für eine Pandemie.“

Der Schritt vom Schwein zum Mensch sei viel einfacher als der von Mensch zu Mensch, erklärt Schwemmle. Schönreden möchte er die Lage aber nicht. Die Kooperation habe nur eine kleine Auswahl an IAV-Reassortanten aus Schweinen untersucht. „Außerdem haben alle unsere Testsysteme Grenzen“, mahnt er. „Wir brauchen bessere Screening-Modelle für Viren mit pandemischem Potenzial.“ Es gelte, eine Nachbarschaft von Vögeln mit Zuchtschweinen zu verhindern. Bei potenziell gefährlichen Funden hält es Martin Schwemmle für sinnvoll, gegen entsprechende IAV Impfstoffe „auf kleiner Flamme herzustellen“. Geimpfte Schweine würden besser gedeihen und gleichzeitig Menschen weniger gefährden. Allen Seiten wäre geholfen. Dann träfe es die Gesellschaft auch nicht unvorbereitet, wenn eine IAV-Grippepandemie ausbricht. Kommen wird sie irgendwann.

Jürgen Schickinger