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„Ein Japaner zögert länger als ein Deutscher, vor Gericht zu gehen"

Eine internationale Forschergruppe vergleicht die Rechtskulturen der beiden Länder

Freiburg, 05.04.2017

„Ein Japaner zögert länger als ein Deutscher, vor Gericht zu gehen"

Foto. AA+W/Fotolia

Durch einen Haufen Verbote im Vorfeld abschrecken und eine mögliche Rechtsverletzung vermeiden? Oder lieber den Anwalt eine ordentliche Abfindung aushandeln lassen, nachdem gegen ein Gesetz verstoßen worden ist? Die rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflussen das soziale Leben einer Gesellschaft. Eine internationale Forschergruppe vergleicht die Rechtskulturen in Deutschland und Japan.

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„Wir lassen das Kind ungern in den Brunnen fallen", sagt Prof. Dr. Alexander Bruns. Der Abteilungsleiter am Institut für Deutsches und Ausländisches Zivilprozessrecht der Universität Freiburg beschreibt damit einen grundlegenden gesamtgesellschaftlichen Konsens, der dem deutschen Rechtswesen zugrunde liegt. „Wir versuchen, durch präventive Regelungen unliebsamen Entwicklungen gegenzusteuern." Die gebräuchlichsten Mittel sind Verbote und einstweilige Verfügungen.

Prävention versus Freiheit

Der Präventionsgedanke habe jedoch nicht in allen Rechtskulturen den gleichen Stellenwert. Nach der beispielsweise in den USA vorherrschenden Auffassung sollte die Freiheit des Einzelnen im Vorfeld weniger beschnitten werden. „Man lässt dort den Dingen mehr ihren Lauf und setzt auf reaktive Maßnahmen – also auf Entschädigung und Strafe, wenn das Kind dann in den Brunnen gefallen ist."

Während eine Klägerin oder ein Kläger in Deutschland zumeist mit dem Anspruch vor Gericht gehe, dort Recht zu bekommen, gehe es andernorts oft in erster Linie darum, einen einträglichen Vergleich herauszuschlagen – man denke zum Beispiel an die aus den USA bekannten Massenklagen mit ihren für europäische Vorstellungen zuweilen exorbitanten Entschädigungsforderungen. Stichwort: Abgasskandal des Automobilherstellers Volkswagen.


In Ländern wie den USA geht es oft darum, mit einer Massenklage einen Vergleich mit exorbitanten Entschädigungsforderungen herauszuschlagen – sowie jüngst im Abgasskandal des Automobilherstellers Volkswagen. Foto: industrieblick/Fotolia


Themen aus dem rechtlichen Werkzeugkasten


Diese Unterschiede in der Rechtskultur ergründet Bruns am Beispiel von Deutschland und Japan. Er ist einer der Initiatoren und Vordenker des rechtwissenschaftlichen Projekts „Social Governance by Law: Substantive Standards and Procedural Enforcement" – einer Kooperation zwischen der Universität Freiburg und der Universität Nagoya/Japan.

Das erste Symposium der internationalen Forschungsgruppe fand im September 2016 in Freiburg statt. Dabei diskutierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem Themen aus dem präventiven rechtlichen Werkzeugkasten, beispielsweise die Frage von Unterlassungsklagen, um rechtswidriges Handeln von Unternehmensvorständen zu unterbinden.

Mehr Verbraucherschutz

„Da fällt mir zum Beispiel der Streit des früheren Vorstandssprechers und Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank, Rolf Breuer, mit dem Medienunternehmer Leo Kirch ein", erzählt Bruns. In dem Prozess, der sich über zwölf Jahre erstreckte, ging es um den Vorwurf, Breuer habe durch eine Äußerung in einem Interview den Zusammenbruch der Kirch-Gruppe herbeigeführt. Dieses Beispiel zeige eindrucksvoll, dass ein Unternehmen unter Umständen durchaus Interesse daran haben kann, einem Vorstandsmitglied geschäftsschädigende Aussagen oder Maßnahmen durch einstweilige Verfügungen untersagen zu lassen. Ein Beispiel aus Japan ist die gegenwärtige Tendenz, den Verbraucherschutz in Form von Gruppen- oder Verbandsklagen zu stärken.

Ähnlich wie in Deutschland ist auch im japanischen Patentrecht der präventive Rechtsschutz von besonderer Bedeutung. Bei einem zweiten Symposium, das in diesem Jahr in Nagoya geplant ist, sollen dann vor allem reaktive Regelungen beleuchtet werden.

Japan, das sein Rechtssystem Anfang des 20. Jahrhunderts stark an deutschen und französischen Vorbildern aufbaute, sei nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Bezug auf die rechtliche Praxis zunehmend unter den Einfluss der USA geraten. Heute hat Japan eine „hybride" Rechtskultur, in der zivilrechtliche Streitigkeiten weit häufiger als in Deutschland auf dem Vergleichsweg bereinigt werden. „Ein Japaner zögert länger als ein Deutscher, vor Gericht zu gehen. Er strebt eher eine einvernehmliche Lösung an. Damit vermeidet er auch eher einen Gesichtsverlust", erläutert der Rechtswissenschaftler.

Den eigenen Standort bestimmen

Das hat zur Folge, dass in Japan – tendenziell ähnlich, wenn auch nicht ganz so massiv wie in den USA – viel weniger Rechtsfälle vor der Richterin oder dem Richter landen. Während in den USA weniger als ein Prozent der Entschädigungsverfahren von einem Bundesgericht entschieden werden, haben in Deutschland die Gerichte bei der Mehrheit aller zivilrechtlichen Streitfälle das letzte Wort. Japan nimmt hier eher eine Mittelstellung ein.
Das Projekt habe eine beachtliche gesellschaftliche Relevanz, sagt Bruns: „Rechtliche Rahmenbedingungen beeinflussen das soziale Leben in rechtsstaatlichen Gesellschaften." Das habe auch unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft. Für Deutschland sei der Vergleich der Rechtspraxis mit einer anderen starken Wirtschaftsnation „zur eigenen Standortbestimmung und Selbstreflexion" von Bedeutung. Er ermögliche, die Wirkungsweise des eigenen Rechts zu analysieren – mit dem Ziel, Maßstäbe dafür zu entwickeln, mit welcher Kombination aus präventiven und reaktiven Regelungen ein Rechtssystem gestaltet sein sollte, um bestimmte Ziele zu erreichen.

Verena Adt

Kooperation zwischen Freiburg und Nagoya

Das Vorhaben wird seit Anfang 2015 von einer gemeinsamen Forschungsgruppe des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und seinem japanischen Pendant, dem Institute for Advanced Research (IAR) der Universität Nagoya, vorangetrieben. Etwa ein Dutzend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus beiden Ländern sind an dem Vorhaben beteiligt, das mit insgesamt knapp 60.000 Euro gefördert wird. Auf deutscher Seite ist Prof. Dr. Alexander Bruns federführend; auf japanischer Seite verantwortet Prof. Dr. Masabumi Suzuki die Kooperation.

Mehr Informationen über die Kooperation