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In der Realität ankommen

Der Theologe Magnus Striet fordert eine Kirche, die sich der modernen Gesellschaft öffnet

Freiburg, 02.04.2019

Abschaffung des Pflichtzölibats, Frauen als Priesterinnen, mehr Mitbestimmung von Nicht-Klerikerinnen und Nicht-Klerikern: Der Theologe Prof. Dr. Magnus Striet scheut sich nicht vor klaren Forderungen – auch wenn sie auf Widerstand stoßen. Die katholische Kirche ist in der Krise, die Zahl ihrer Mitglieder sinkt, die der Bewerber fürs Priesteramt ebenso. Dazu kommt der Missbrauchsskandal, der die Kirche im Kern erschüttert. Wie kann und soll Kirche in einer modernen Gesellschaft aussehen? Das beschäftigt Striet, seit 2004 Professor für Fundamentaltheologie und philosophische Anthropologie in Freiburg. Thomas Goebel hat mit ihm gesprochen.


Gelebte Religiosität stärke die Identität – wer verunsichert sei, scheue sich vor Debatten, die das eigene Weltbild angreifen, sagt Magnus Striet. Foto: bilderstoeckchen/stock.adobe.com

Herr Striet, warum fordern Sie als Professor für katholische Theologie die Aufhebung des Pflichtzölibats?

Magnus Striet: Für mich gibt es keine überzeugende inhaltliche Begründung für ein Pflichtzölibat – und angesichts der Nachwuchszahlen bei Priestern muss man sagen: Das System funktioniert nicht mehr, weil immer weniger Männer bereit sind, unter diesen Bedingungen das Amt zu übernehmen. Die Kirchen besitzen in unserer fragmentierten Gesellschaft immer noch eine enorm wichtige Funktion, und schon von daher wäre es bedauerlich, wenn sich die katholische Kirche aufgrund des Pflichtzölibats weiter selbst schwächte.

Sie haben gesagt, der Umgang mit Sexualität sei nur ein Beispiel für die fehlende „Selbstaufklärung“ der Kirche im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen. Was meinen Sie damit?

Auf der Leitungsebene hat es die katholische Kirche in den vergangenen Jahrzehnten verpasst, sich offen dem Faktum neuer Lebensformen zu stellen. Überhaupt hat sie dort ein enormes Selbstaufklärungsdefizit im Hinblick auf human- und sexualwissenschaftliche Fragen. Das dringendste Beispiel ist die Homosexualität: Man spricht in der Kirche immer noch davon, dass in biblischen Zeiten eine Partnerschaft zwischen Menschen mit homosexueller Orientierung verboten worden sei. Das entspricht aber nicht einmal dem historischen Tatbestand. Verboten wurde unter anderem die Vergewaltigung von Männern in Kriegssituationen. Das hat nichts mit dem Konzept von Homosexualität zu tun, das heute bei uns gesellschaftlich anerkannt ist.

Woher kommt diese Schwierigkeit, sich auf Themen wie Homosexualität einzulassen?

Das Lehramt der katholischen Kirche – also die vom Papst und den Bischöfen ausgeübte Lehrautorität – ist nur schwer dazu in der Lage, sich selbst zu korrigieren. Je stärker Positionen historisch aufgebaut worden sind, desto schwieriger wird es. Sich selbst zu korrigieren fällt immer schwer. Wenn man ein Amtsverständnis wie das in der katholischen Kirche vertritt, wird es nicht leichter.

Geht es letztlich also um eine Struktur- und damit um eine Machtfrage?

Ja, ich würde empfehlen, sich in der Kirche nüchtern die Systemfrage zu stellen, anstatt immer theologisch hoch aufgeladene Begriffe zu benutzen. Es geht um die Verteilung von Macht. Wenn diese nicht deutlich flacher organisiert wird, und das heißt mit klar organisierten Mitspracherechten für Nicht-Kleriker, dann wird die katholische Kirche aus ihrer Krise nicht herausfinden.

Welche grundsätzlichen Systemänderungen wären in Ihren Augen sinnvoll?

Wichtig sind rechtlich abgesicherte Beteiligungsformen auf welt- und auch auf ortskirchlicher Ebene. Wenn immer nur von oben nach unten entschieden wird, gibt es kaum Möglichkeiten, kreativ und flexibel zu agieren. Und die dringendste Aufgabe besteht darin, sich endlich der Frauenfrage zu stellen. Die Frage der Zulassung zum Amt darf dabei nicht ausgeklammert werden.


„Man wollte das Amt schützen und war nicht bereit, Priester als Täter zu identifizieren“: Magnus Striet erarbeitet als Mitglied der Kommission „Macht und Missbrauch“ Vorschläge zur Aufklärung. Foto: Harald Neumann

Sie sind Mitglied der Freiburger diözesanen Kommission „Macht und Missbrauch“. Was muss jetzt zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals geschehen?

Alle bisherigen Studien zeigen, dass der Missbrauch und seine Vertuschung systemische Gründe haben: Man wollte das Amt schützen und war nicht bereit, Priester als Täter zu identifizieren. In der Kommission selbst werden wir den Missbrauchsskandal bezogen auf die Erzdiözese so gut aufarbeiten, wie es eben geht. Wir haben zudem eine eng an die Kommission angebundene Arbeitsgruppe aus pensionierten Staatsanwälten und Polizeibeamten eingerichtet, die exemplarisch einzelne Fälle untersucht. Am Ende geht es um Aufklärung – und darum, die bereits existierenden Präventionsmaßnahmen zu intensivieren. Dafür werden wir sehr konkrete Vorschläge machen.

Dass die katholische Kirche sich grundsätzlich so schwer mit Veränderungen tut, erklären Sie auch mit einer antimodernen Grundhaltung.

Die Kirche, die im Moment eine massive Krise durchlebt, ist eine Kirche, die so in ihrer Gestalt und Identitätskonstruktion erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Was als neuzeitlich-modern galt, wurde verurteilt: Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und ein modernes Selbstbestimmungsrecht. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 bis 1965 gelang es ihr, zumindest teilweise in einer Moderne anzukommen, die auf Freiheitsrechte setzt. Bis heute konkurriert in der einen Kirche eine Kirche aus dem Geist des 19. Jahrhunderts mit einer Kirche, in der Freiheitsrechte das höchste Gut darstellen. Der weitaus überwiegende Teil sich als katholisch beschreibender Menschen weiß, welche Kirche er will. Nicht die erstere.

Und diese „moderne“ Kirche an der Basis entspricht für Sie eher der Ursprungsidee als die „alte“ Amtskirche?

Ja. Eine solche offene Kirche ist tatsächlich näher am Evangelium. Jesus, dieser Jude aus Nazareth, hat nicht für eine stark hierarchisierte, vorschreibende Kirche gestritten. Er hat darauf gedrungen, Menschen in ihrer Biografie ernst zu nehmen. Um es modern zu sagen: Er war ein Ambiguitätsverfechter im Namen des Gottes Israels.

Sie beziehen häufig Position zu umstrittenen Themen und wählen gerne prägnante Formulierungen. Welche Reaktionen bekommen Sie?

Erwartungsgemäß gespaltene. Während die einen erleichtert sind, dass endlich jemand Klartext spricht, bezeichnen die anderen Personen wie mich als Nestbeschmutzer. Gelebte Religiosität hat eine identitätsstabilisierende Funktion, und mein Grundsatz lautet: Nur wer bereits verunsichert ist, hat Angst vor dem harten Diskurs. Als Theologe bin ich in meinem Selbstverständnis aber dazu verpflichtet, mich auch öffentlich zu äußern. Den Gegendruck halte ich schon aus.

Sie fordern eine kritische, wissenschaftliche Theologie. Muss diese nicht zwangsläufig in Konflikte mit der Glaubensinstitution Kirche geraten?

Ja, das gilt aber für alle sozialen Großsysteme: Je mehr dort die Bildung eine Rolle spielt, desto stärker treten Probleme und nicht gelöste Fragen zutage. Wer für sich den Anspruch erhebt, sich selbst im System der Wissenschaften akademisieren zu wollen, muss damit leben, dass historisch eingenommene Positionen kritisch hinterfragt werden und neue Denkvorschläge gemacht werden. Auf ihrer Leitungsebene hinkt die Kirche der wissenschaftlichen Theologie weit hinterher. Angesichts der Ungleichzeitigkeiten und kulturellen Unterschiede, die in der katholischen Kirche herrschen, kann ich der Kirche in Deutschland nur die Empfehlung geben, endlich selbst das Heft in die Hand zu nehmen. Das hat nichts mit Überheblichkeit zu tun, sondern mit Realismus.