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Oft kopiert, nie erreicht

Warum Helden begeistern, polarisieren und auf den Applaus ihrer Verehrer angewiesen sind

Freiburg, 15.11.2018

Oft kopiert, nie erreicht

Illustration: Svenja Kirsch

Adlige Krieger, durchtriebene Spione, sexy Untote: Das neue Onlinelexikon „Compendium heroicum“ versammelt Beiträge über neueste Erkenntnisse aus der Heldenforschung. Das digitale Nachschlagewerk richtet sich an alle, die mehr über Heldinnen und Helden wissen wollen: Was erhebt eine Figur zum Helden? Welche Typen – von den edlen Heroen der griechischen Mythologie bis zu den vegetarischen Vampiren aus der jüngsten Filmgeschichte – bringt eine bestimmte Epoche hervor? Und wie erschaffen Gesellschaften ihre Helden? Denn klar ist: Sie sind aufeinander angewiesen. „Helden brauchen immer ein Publikum, das sie verehrt und ihrer gedenkt“, sagt Georg Feitscher, der für das Compendium zuständig ist. „Und gleichzeitig profitiert auch die Gesellschaft von den Gestalten, die sie zu ihren Helden auserwählt.“ Die Geschichte habe unzählige Figuren hervorgebracht, die gefeiert und verehrt wurden. „Doch uns interessieren die Prozesse, bei denen Helden konstruiert werden.“ Aus diesen unterschiedlichen Umständen haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Freiburger Sonderforschungsbereichs „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ fünf Merkmale abgeleitet. Welche Eigenschaften schreiben Gemeinschaften also ihren Helden zu?

Lügen bringt nichts: Wonder Woman fängt die Wahrheit mit dem Lasso ein.
Illustration: Svenja Kirsch

Außerordentlichkeit: Im Lasso liegt die Wahrheit

Die Heldwerdung beginnt mit einer Grenzziehung: Auf der einen Seite steht der graue Durchschnitt in Sachen Intelligenz, Schönheit und Stärke. „Auf der anderen Seite ist der Held, der eine außergewöhnliche Leistung vollbracht hat und sich deswegen von den anderen unterscheidet“, erklärt Feitscher. Diese Außerordentlichkeit finde sich bereits in den ältesten Geschichten der Menschheit wieder: Die Heroen der griechischen Mythologie – halb Götter, halb Menschen – kämpften, gründeten Städte und brachten die hohe Kultur unters Volk. Und das Gegenstück in der Gegenwart? „Das sind zum Beispiel die Superhelden, die durch Magie, Körperprothesen oder Medikamente übermenschliche Qualitäten erlangen.“ Auftritt Wonder Woman aus dem US-amerikanischen DC-Comics-Verlag. Prinzessin Diana verlässt ihre Paradiesinsel, um den Schurken Ares außer Gefecht zu setzen. Die Amazone setzt dabei nicht nur auf ihre Spitzenausbildung im Nahkampf. Mit einem Lasso, das wie ein Wahrheitsserum wirkt, fängt sie ihre Gegner ein, die Metallstulpen an ihren Armgelenken wehren jede Kugel ab. Und dann gibt es noch den „Gotttöter“, ein Zauberschwert. Die Welt ist gerettet. Und als wäre das nicht außerordentlich genug: Die Frisur sitzt nach jedem Kampf perfekt.

Der Pilot Chesley B. Sullenberger wurde in den USA als „Held vom Hudson“ gefeiert.
Illustration: Svenja Kirsch

Grenzüberschreitung: Wir sind dann mal im Hudson

„We’re gonna be in the Hudson“: Die Stimme des Piloten klingt ruhig, resolut. Der Fluglotse, der diese Mitteilung entgegennimmt, traut seinen Ohren nicht. Nicht mal ein Wahnsinniger würde eine ins Straucheln geratene Maschine auf dem Wasser landen wollen. Aber genau das macht Chesley B. Sullenberger, besser als „Sully“ bekannt, an diesem Januarmorgen im Jahr 2009. Alle an Bord überleben die Notlandung. Die Medien feiern Sully als „Helden vom Hudson“, der Bürgermeister von New York nennt ihn „Captain Cool“, der frisch ins Präsidentenamt gewählte Barack Obama lässt ihn ehren. Dabei hätte es auch anders kommen können. „Mit heroischen Taten ist meist eine Verletzung bisheriger Normen verbunden. Da tut einer was, was man eigentlich nicht tut oder tun sollte“, sagt Feitscher. Die Gemeinschaft müsse sich erst einmal darüber verständigen, wie die Tat zu bewerten sei. Dieses Kippmoment war für Sullenberger deutlich zu spüren: 18 Monate lang wurde gegen ihn ermittelt, um festzustellen, ob er das Leben von 155 Menschen nicht unnötig riskiert habe. „Solch ein Überschreiten von Grenzen polarisiert extrem, und wäre die Maschine verunglückt, hätte man die Tat auch anders bewertet. Die Frage ist, welche Gruppe sich mit ihrer Deutung durchsetzt.“ In Sullys Fall waren es die Verehrer. Und der Pilot weiß mit seinem Image zu kokettieren. Sein Buch trägt den Titel: „Man muss kein Held sein. Auf welche Werte es im Leben ankommt“.

Moralischer Kompass für die Nachkommen: Fast jedes europäische Land errichtete ein Denkmal für den „Unbekannten Soldaten“.
Illustration: Svenja Kirsch

Vorbildlichkeit: Kult um namenlose Krieger

Eine Untertreibung sei es, Helden lediglich als Vorbilder zu bezeichnen. Sie müssten viel mehr leisten: „Sie bieten eine Projektionsfläche für alle Wünsche und Erwartungen einer Gemeinschaft. Was sie selbst nicht vollbringt, sollen ihre Helden erledigen“, betont Feitscher. Wer muss also als Stellvertreter für überzogene Ideale herhalten? Soldaten, die das Trommelfeuer in den Schützengräben nicht scheuen. Noch besser: ein ganzes Heer davon. Diese Fantasie vom heroischen Kollektiv entwickelt sich im 19. Jahrhundert. „Vorher gab es die großen Feldherren, die durch besondere Taten Schlachten gewannen.“ Mit dem allmählichen Aufstieg des Bürgertums wird aber auch das Individuum interessanter. Die Soldatenverehrung findet im Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt: „Durchhaltewille, Opferbereitschaft, Standhaftigkeit – diese Werte wurden auf alle Soldaten projiziert, egal, ob der Einzelne sie einlösen konnte oder nicht.“ Der Kult ging bis zur Errichtung von Denkmälern für den „Unbekannten Soldaten“. Fast jedes europäische Land erbaute solch ein Monument – ein die Jahre überdauernder moralischer Kompass, der die Nachrücker daran erinnern sollte, wie sie sich an der Front zu verhalten hätten. „Das ist eine unauflösbare Spannung“, stellt Feitscher fest. „Eine Gemeinschaft bejubelt einen Helden als unnachahmlich und fordert gleichzeitig den Rest zur Nachahmung auf.“

Achilleus trifft auf Hektor – der vielleicht größte Showdown in der Geschichte der Literatur.
Illustration: Svenja Kirsch

Kampfbereitschaft: Das wird jetzt wehtun

Es ist der vielleicht größte Showdown in der Geschichte der Literatur. In der einen Ecke: Hektor, der Liebling der Götter und der tapferste Kämpfer der Trojaner. In der anderen, oder besser im Zelt: Achilleus, der stärkste und gefürchtetste Krieger der Griechen, der mit Hektor eine Rechnung offen und sein Temperament nicht immer unter Kontrolle hat. Hinter den Stadttoren Trojas tobt das Publikum, und wenn Lanze und Speer im Spiel sind, wird reichlich Blut fließen. „Das ist ein klassisches Merkmal, das Helden seit Jahrtausenden zugeschrieben wird“, berichtet Feitscher. „Sie müssen kämpfen, sich mit anderen messen, dabei oft leiden und manchmal auch sterben.“ Als Helden gelten sie aufgrund ihrer Entschlossenheit, ihr Leben für ein Ideal, ein Land oder eine Religion zu opfern. Und eine gute Erzählung über einen Kampf brauche mindestens zwei Parteien: einen Helden und seinen Widersacher. In solchen Gegenpolen zu denken ist übrigens nur allzu menschlich: „Mit diesem Narrativ begreifen und deuten wir intuitiv unsere eigene Geschichte, und zwar über alle Epochen hinweg.“

Ross und Reiter: Alexander der Große gilt als Inbegriff des entschlossenen Eroberers.
Illustration: Svenja Kirsch

Handlungsmacht: Welteroberer im Alleingang

„Da ist einer, der die ganze Action auf sich zieht“: So beschreibt Feitscher, was sich hinter dem Begriff der „Handlungsmacht“ verbirgt. „Geschichten über Helden werden immer auf eine bestimmte Art und Weise erzählt. Alle wichtigen Handlungen, Entscheidungen und Entwicklungen gehen von einer Figur aus – alles andere wird ausgeblendet.“ Ob Christoph Kolumbus, Galileo Galilei oder Napoleon Bonaparte: Ein bedeutender Mann nach dem anderen scheint die Welt im Alleingang revolutioniert zu haben. Alexander der Große etwa gilt nach wie vor als Inbegriff des entschlossenen Eroberers. Der König von Makedonien drang mit seinem Heer von Griechenland aus über die Türkei, den Nahen Osten und Persien bis nach Indien vor. „Das war nur aufgrund einer riesigen, aufwendigen Verwaltung möglich, doch niemand interessiert sich für die Logistik, die hinter den Feldzügen stand.“ Geschichte sei eben komplex und unüberschaubar. Viele Akteure, Institutionen und Erfindungen, die bisweilen entscheidend zum Erfolg beitrugen, würden aus der Überlieferung gestrichen, um eine Erzählung verständlich und eingängig zu machen. „Und je größer der historische Abstand, desto mehr wird eine Geschichte auf eine Figur, einen Helden, verdichtet.“

Rimma Gerenstein


 

Compendium heroicum

Der Sonderforschungsbereich (SFB) „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg und das Projekt Open Encyclopedia System (OES) der Freien Universität Berlin haben gemeinsam das Online-Lexikon „Compendium heroicum“ gestartet – eine offene digitale Plattform, die den direkten Zugriff auf zentrale Ergebnisse der Heldenforschung ermöglicht. Es basiert auf Open-Source-Software, veröffentlicht seine Inhalte unter einer Open-Access-Lizenz und ist inhaltlich in fünf Rubriken gegliedert, die sich jeweils unterschiedlichen Aspekten des Heroischen widmen: „Heldentypen“ stellt heroische Figuren und Modelle heldenhaften Handelns vor, „Kulturen und Praktiken“ beleuchtet Gemeinschaften und deren Helden im historischen Kontext. „Objekte und Attribute“ veranschaulicht die Dinglichkeit und Symbolik des Heroischen, „Theorie des Heroischen“ stellt grundlegende Ansätze und Begriffe vor, und „Medialität“ widmet sich der Frage nach der Ästhetik und den Erzählmustern. Verfasst werden die Beiträge von den Mitgliedern des SFB sowie Gastautorinnen und -autoren aus unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Fächern.

www.compendium-heroicum.de

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