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„Es war ein riesengroßes Geschenk“

Hans-Jochen Schiewer blickt auf zwei Amtszeiten als Rektor der Universität Freiburg zurück

Freiburg, 21.09.2020

Seit zwölf Jahren steht Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer als Rektor an der Spitze der Universität Freiburg – am 1. Oktober 2020 kehrt er auf seine Professur für Germanistische Mediävistik zurück. Im Interview mit Nicolas Scherger berichtet er über die Bedeutung einer Vision für die gesamte Universität, das besondere Freiburger Gefühl der Zusammengehörigkeit und die Verpflichtung, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

Hans-Jochen Schiewer ermuntert alle Mitglieder der Universität Freiburg, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen: „Alle Disziplinen müssen sich fragen, wie sie zur Arbeit an den großen Herausforderungen unserer Zeit beitragen können.“ Foto: Patrick Seeger

Herr Schiewer, als Mediävist: Welche Elemente einer Aventürefahrt hatte Ihre Amtszeit?

Hans-Jochen Schiewer: Eine Aventürefahrt besteht aus voraussehbaren und aus überraschenden Herausforderungen. Das entspricht dem, was ein Rektor erlebt. Bei glücklichem Verlauf mündet eine Aventürefahrt in ein rauschendes Fest am Artushof, und der Bericht über die bestandenen Aventüren ist eine willkommene Unterhaltung. Ich kann mir überlegen, ob ich aus meiner Aventürefahrt als Rektor eine Geschichte machen werde, die noch zu erzählen ist.

Zu Beginn Ihrer Aventürefahrt waren Sie mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert als heute – etwa mit kontroversen Debatten zum Bologna-Prozess. Wie sind Sie mit den schnell wechselnden Themen und den vielen kurzlebigen Trends umgegangen?

Wichtig ist eine Vision, wie ein Rektor die Universität weiterentwickeln möchte. Eine der großen Stärken unserer Universität ist der Teamgeist: die Bereitschaft, über die Grenzen von Fächern und Fakultäten hinweg zusammenzuarbeiten und wissenschaftliche Fragen gemeinschaftlich zu lösen. Das habe ich schon als Professor erlebt und dann in meine Amtszeit als Rektor weitergetragen, um diese Stärke in die Entwicklung der Universität einzubringen. Das große Ziel darf man nicht aus den Augen verlieren, und in diesen Rahmen müssen sich die kurzfristigen Trends, Debatten und Themen einordnen lassen.

Womit ist es aus Ihrer Sicht besonders gut gelungen, diese Stärke umzusetzen?

Mit der Einrichtung des Freiburg Institute for Advanced Studies, an dem dieser Teamgeist gelebt wird. Mit dem Studiengang Liberal Arts and Sciences, der dieses Prinzip in die Lehre hineinträgt. Beides sind Alleinstellungsmerkmale unserer Universität. Dazu kommt die Zusammenarbeit mit den anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, sei es die traditionelle Zusammenarbeit mit der Max-Planck-Gesellschaft, die geradezu modellhafte Kooperation mit der Fraunhofer-Gesellschaft oder die Zusammenarbeit mit den anderen Hochschulen am Standort. Und wichtig ist mir vor allem auch der Brückenschlag zu unseren starken Partnern in Frankreich und in der Schweiz.

Sie haben auf den European Campus gesetzt, lange bevor europäische Universitäten zum großen politischen Thema geworden sind. Weshalb?

Ich bin überzeugter Europäer, das kommt durch meine Berliner Wurzeln. Und Freiburg ist durch seinen Standort am Oberrhein für mich schon immer ein Europa in der Nussschale gewesen. Meine Idee war, dass wir ein Experiment machen, wie wir Lehre, Forschung, Transfer und gesellschaftliche Verantwortung grenzüberschreitend mit unseren Partnern Basel, Karlsruhe, Mulhouse und Strasbourg leben und umsetzen können – und dass wir aus unseren unterschiedlichen kulturellen Traditionen Stärke gewinnen. Man darf nicht blauäugig sein, das ist schwierig. Aber es bringt auch viele Glücksmomente mit sich. Unser Ansatz war modellbildend für die Initiative für Europäische Universitäten, plötzlich wurde die Universität zum Träger der europäischen Idee – und wir waren von Anfang an dabei. Das finde ich großartig.

Sie waren Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz Baden-Württemberg, Präsident von Eucor – The European Campus und Vorstandsvorsitzender des Universitätsverbunds German U15. Was hat Sie motiviert, sich politisch zu engagieren?

Natürlich muss man erstmal vor Ort seine Arbeit leisten. Aber ein Rektor leistet vor allem Strategiearbeit, indem er – in Abstimmung mit dem gesamten Rektoratsteam – die Richtlinien der Entwicklung vorgibt. Und Strategiearbeit ist immer politisch. Der Rektor hat die Verantwortung, im wissenschaftspolitischen Raum Präsenz zu zeigen und eher Ratgeber als Ratsuchender zu sein. Damit kann er auf die Rahmenbedingungen Einfluss nehmen, unter denen die Universität ihre Strategie umsetzt.

Ein politisch wichtiges Thema ist die Förderung junger Forscherinnen und Forscher. Sie haben sich stark für wissenschaftliche Talente eingesetzt und die Tenure-Track-Professur in Freiburg etabliert. Warum würden Sie zu einer Karriere in der Forschung raten?

Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, welche Unsicherheiten mit wissenschaftlichen Karrieren verbunden sind. Dieser Weg ist nie risikofrei. Wissenschaft bedeutet aber auch Freiheit, Selbstbestimmtheit und Selbstverwirklichung. Wer für seine Wissenschaft brennt, hat das Glück, seine Leidenschaft zum Beruf machen zu können. Man muss aber die Weichen für erfolgreiche Karrieren möglichst früh stellen. Deswegen bin ich überzeugt, dass es für Karrierewege gerade von Frauen in der Wissenschaft zentral ist, über die Tenure-Track-Professur eine klare Perspektive zu eröffnen. Diesen Weg zur Professur wollen wir in unserer universitären Kultur verankern.

Die Universität verzeichnet besonders bei Förderformaten für junge Forschende große Erfolge, hat eine hervorragende Leistungsbilanz, zählt in maßgeblichen Rankings regelmäßig zu den Top Ten bundesweit – darf sich aber nicht mit dem Titel „Exzellenzuniversität“ schmücken. Wie schwer wiegt dieser Umstand?

Persönlich geht es mir schon nach, dass wir das Ziel, zu den geförderten Exzellenzuniversitäten zu gehören, nicht erreicht haben. Aber trotz der durchaus kontroversen Diskussion über Sinn und Unsinn dieses Wettbewerbs an unserer Universität haben alle, die daran beteiligt waren, dies als einmaliges Erlebnis der Zusammengehörigkeit wahrgenommen. Für diese Leistung und diesen Teamgeist hätten wir es verdient gehabt, ausgezeichnet zu werden. Es ist nicht so gekommen – und doch hat uns diese gemeinsame Anstrengung vorangebracht. Die Universität hat sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich in ihren Leistungsdaten verbessert, und wir sind auch ohne Exzellenzförderung mit den Exzellenzuniversitäten auf Augenhöhe unterwegs. Das sollten wir wertschätzen.

Als Krisenmanager waren Sie ebenfalls gefragt. Welche Lehren haben Sie aus der Aufklärung der Dopingvergangenheit der Freiburger Sportmedizin gezogen?

Pointiert formuliert, wäre ich in diesem Fall lieber investigativer Journalist als Rektor dieser Universität gewesen. Denn für den Rektor ist der rechtsstaatliche Rahmen das Maß aller Dinge. Ich habe persönlich diesen Rahmen bis zur Ermessensgrenze ausgeschöpft, um Aufklärung zu ermöglichen – aber er ist eben da. Insofern bin ich durchaus stolz, dass wir als einzige akademische Einrichtung in Deutschland die Verstrickung der Sportmedizin konsequent aufgearbeitet und öffentlich dokumentiert haben. Zugleich bin ich zutiefst ernüchtert, dass vieles erst in Jahren öffentlich werden darf und damit die Aufklärung an einem bestimmten Punkt nicht weitergeführt werden konnte.

Nach zwölf Jahren als Rektor: Was haben Sie aus Ihrer Arbeit gelernt?

Als Professor für mittelalterliche Literatur und Sprache war am Beginn meiner Amtszeit meine Kenntnis der gesamten Universität noch nicht so ausgeprägt wie heute. Es war ein riesengroßes Geschenk, als Rektor alle Wissenschaften, die wir an unserer Universität betreiben, kennenlernen und diese Institution gestalten zu dürfen. Außerdem ist mir klar geworden: Alle, die hier forschen, lehren und lernen, haben die Verpflichtung, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Alle Disziplinen müssen sich fragen, wie sie zur Arbeit an den großen Herausforderungen unserer Zeit beitragen und wie sie wichtige Themen öffentlich zur Diskussion stellen können.

Welcher Moment wird Ihnen als besonders glücklich in Erinnerung bleiben?

Ganz persönlich war einer der glücklichsten Momente meine Wiederwahl 2014 und der Start in eine zweite Amtszeit mit einem neuen Rektorat. Und eine prägende Erfahrung, die letztlich in ein großes Glücksgefühl mündete, war die Kooperation mit den beiden Clusterteams im Rahmen der Exzellenzstrategie. Wir haben unendlich hart zusammengearbeitet, einen Teamspirit aufgebaut, große menschliche Nähe entwickelt. Es war eine unglaubliche Erfahrung, dann in dem Moment, als es darauf ankam, die beste Leistung abzuliefern und beide Cluster erfolgreich einzuwerben.

Auf welche Erfahrung hätten Sie lieber verzichtet?

Auf keine.

Mit welchen Themen wollen Sie sich künftig in der Mediävistik befassen?

Ein Leitprinzip wird für mich die gesellschaftliche Verantwortung sein. Als Mediävist, der sich mit geistlicher Literatur des Mittelalters befasst, kann ich auch etwas zu Themen wie religiös begründete Politik, gesellschaftlicher Zusammenhalt oder Furcht im Angesicht gesundheitlicher Bedrohungen sagen. Außerdem hoffe ich, dass ich es schaffe, mein Lieblingsprojekt umzusetzen: ein Buch mit dem Titel „Bestseller im Mittelalter“ – also Artusromane, Enzyklopädien, Heiligenleben und so weiter. Dieses ganze Spektrum so zu verarbeiten, dass es für viele zu einer interessanten Lektüre wird, wäre mir ein Vergnügen.

Was wünschen Sie Ihrer Universität Freiburg für die Zukunft?

Ich habe es erwähnt: dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, dass man gemeinsam über alle Statusgruppen hinweg für seine Universität eintreten, über Fächergrenzen hinweg kooperieren und etwas erreichen kann. Diese Stärke haben wir erlebt. Darauf sollten wir uns besinnen und sie für unsere Forschung, Lehre und gesellschaftliche Verantwortung nutzen. Dann mache ich mir um die Zukunft dieser Universität keine Sorgen.