Alterszäsuren in der Literatur
|
Kritisches Alter bei Goethe: Literarische Texte über das Alter sind eng verknüpft mit neuen Erzählformen.
(© Aridula / photocase)
Gewisse Themen verlieren nie an Aktualität, so auch die Rolle des Alters. Schon Platon und Cicero gingen darauf ein. In Zeiten des demographischen Wandels wird mehr denn je nach neuen Deutungen des Alters verlangt. Literarische Beschreibungen hatten – und haben noch immer – Einfluss auf die Gesellschaft, da das, was gelesen wird, oftmals als Simulation der eigenen Empfindungen verstanden wird und die Handlungen der Figuren vom Leser auch als eine Art Probehandeln aufgefasst werden. Da es aber Veränderungen im Altersdiskurs gibt, bedürfen ältere Texte, so Fitzon, einer historischen Einordnung und Interpretation, die es für das Genre der Alternserzählung, die von der Erfahrung des Alterns um die Lebensmitte handeln, bisher nicht gibt.
- Subjektivierung des Alters
Um 1800 wurden Erzählungen erstmals aus dem Bewusstseinshorizont einer Figur dargeboten, sie wurden zunehmend subjektiviert. Dadurch entstanden neue Erzählformen, welche die Erfindung des „kritischen Alters“, wie wir es heute als Midlife-Crisis kennen, erst ermöglichten: Um das 50. Lebensjahr, bei Frauen oft schon um das 30. oder 40. Jahr, stellt sich die Frage „Bin ich jung oder alt?“ Ein Drittes, das den Übergang des Alterns markieren würde, kennt diese Frage nicht, was zu kritischen Entscheidungssituationen und einer distanzierten Selbstwahrnehmung führen kann. Dieses kritische Alter bildet somit einen Einschnitt in der Ich-Konstruktion, der erst in neuen subjektivierenden Formen der Literatur, wie beispielsweise in der erlebten Rede oder durch den inneren Monolog angemessen beschrieben werden konnte. So eröffnen sich Einblicke in die persönliche Erfahrungswelt des Alterns. Im ausgehenden 18. Jahrhundert entdecken Autoren das Thema verstärkt: Viele der Texte verweisen bereits im Titel auf das kritische - wie August von Kotzebues Der Mann von vierzig Jahren (1795) Johann Wolfgang von Goethes Der Mann von funfzig Jahren (1808/1829) oder Therese von Hubers Die Frau von vierzig Jahren (1800).
- Das Genre der Alternserzählungen
Fitzon konzentriert sich auf Erzählungen vom beginnenden 19. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Erzählungen, von denen viele konkrete Altersangaben im Titel führen, behandeln ein zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr angesiedeltes, so genanntes gefährliches Alter als Einschnitt in der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die mit der Bewusstwerdung des eigenen Alterns einhergeht. In einem Perspektivwechsel wird das Alter erstmals als innere Erfahrung beschrieben und nicht mehr nur von Außen, aus Sicht der meist jüngeren beschrieben. Jeweils zu Beginn des 19. und 20. Jahrhunderts erreicht die Gattung einen Höhepunkt. Gleichzeitig gibt es in der Gesellschaft eine Modernisierung der Industrie und neue Einsichten in der Psychologie – diese Entwicklungen stehen im Zusammenhang mit dem verstärkten gesellschaftlichen Interesse an der Beschreibung von Alternskrisen. Das neue Genre durchkreuzt die althergebrachte Vorstellung vom Altern als Reifungs- und Vollendungsprozess und wandelt sie ab: Die Alternserzählungen gelten als grundlegende Texte für den persönlichen Blick auf das Altern in der Moderne. Weiterhin sind sie richtungweisend für die Erkenntnis des modernen Menschen, dass er sich trotz einer gewissen Flexibilisierung der Altersgrenzen irgendwann zwischen einer jungen und einer alten Identität entscheiden muss, da die mittleren Lebensjahre in der Konfrontation von Jugend und Alter aufgehoben werden.
- Der Greis im Frühling
Aber nicht nur die Erzählstrukturen ändern sich, sondern auch die Sinnbilder, wissenschaftlich Topoi genannt, in denen die vielschichtigen Sinnebenen des Alters veranschaulicht werden. So wird etwa die spezifische Zeiterfahrung das hohen Alters und ihr Wandel, in der Variation eines bestimmten Topois deutschlich: Die Bildende Kunst und die Literatur sah den Vergleich des hohen Alters mit dem Winter als geläufiges Sinnbild für die Vergänglichkeit des Lebens.
![]() |
Die Literatur des 18. Jahrhundert widmet sich dem "Greis im Frühling". |
In der Epoche der Empfindsamkeit, ab dem 18. Jahrhundert, wird dieses Bild mit der Figur des „Greises im Frühling“ neu durchgespielt. Die gesellschaftliche Erwartung, dass das Alter von Rückzug und Jenseitsorientierung geprägt ist, wird durch das widersprüchliche und ambivalente Bild des Greises, der dennoch einen Frühling erlebt, mit der persönlichen Alternserfahrung in Einklang gebracht. Diese Alternserfahrung verselbständigt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Selbstbehauptung des alten Menschen, der auch im hohen Alter sein Leben nicht nur auf den Tod ausgerichtet sieht, sondern noch die Gegenwart eines Frühlings erleben will – die Variation des Winters als Lebensaltertopos zeigt eindrücklich, wie einerseits geläufige Bilder in der modernen Literatur benutzt, zugleich aber auch neu- und umgedeutet werden. Der ursprünglich trostlose Jahreszeitenvergleich, der mit dem Winter das Ableben des Alters herausgestrichen hat, erhält so einen ein neuen Sinn, der nicht weniger an das Modell der zyklischen Jahreszeit angelehnt ist, kommt doch nach jedem Winter wieder ein Frühling, wenn damit auch noch lange nicht der redensartliche ‚zweite’ oder ‚dritte Frühling’ im Leben gemeint war.
Die Druckversion dieses Textes (pdf) finden Sie hier.
Porträt des Forschers