Elementarteilchenforschung: Higgs-Teilchen, Supersymmetrie und die dunkle Seite des Universums
Freiburg, 09.09.2014
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- Spurensuche im schalenförmigen ATLAS-Detektor
- Kleine Scheiben zum Nachweis von Myonen
- Sonnencreme für den ATLAS-Detektor
- Dunkle Materie und offene Fragen
- Suche nach supersymmetrischen Teilchen
- Die Natur des Higgs-Teilchens
- Materie und Antimaterie
- Wie Materie ihre Masse erhält
- Riesige Datenmengen
Um neue Elementarteilchen, die kleinsten Bestandteile der Welt, zu finden, lassen Forscher am CERN Materieteilchen mit riesigen Energien aufeinanderprallen. Dort befindet sich der größte und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt: der Große Hadronen-Speicherring oder Large Hadron Collider (LHC). Dieser beschleunigt zwei Teilchenströme aus Protonen. Protonen gehören zur Gruppe der Hadronen. Dies sind zusammengesetzte Teilchen, die unter anderem aus Quarks bestehen. Die Ströme verlaufen in entgegengesetzte Richtungen, bis die Protonen nahezu Lichtgeschwindigkeit haben (siehe weitere Informationen und Video). In Detektoren, riesigen Messgeräten, kreuzen sich die Ströme. Die aufeinander prallenden Protonen erzeugen neue Teilchen, die teilweise schnell wieder zerfallen oder vom Kollisionspunkt weg durch den Detektor fliegen. Der größte Detektor am LHC ist ATLAS: Er ist 46 Meter lang und mit einer Höhe von 25 Metern so groß wie ein zehnstöckiges Haus. Die Abteilungen von Prof. Dr. Gregor Herten, Prof. Dr. Karl Jakobs und Prof. Dr. Markus Schumacher am Physikalischen Institut der Universität Freiburg sind Teil der ATLAS-Kollaboration. Die Forscher der drei Arbeitsgruppen entwickeln den riesigen Detektor weiter, machen ihn für die Zukunft noch leistungsfähiger, stellen Computer-Ressourcen bereit und werten die Daten aus, die sie bei den Kollisionen im ATLAS-Detektor gewinnen.
Der Large Hadron Collider | |
Der Large Hadron Collider (LHC) liegt 50 bis 150 Meter tief unter der Erde in einem kreisförmigen Tunnel und hat eine Länge von 27 Kilometern. Die Protonen stammen aus einer Gasflasche mit Wasserstoff am Beginn eines mehrteiligen Beschleunigerkomplexes. Nachdem die Protonen mehrere Vorbeschleuniger durchlaufen haben, leiten Technikerinnen und Techniker aus dem Kontrollzentrum des CERN sie in den LHC. Dieser beschleunigt die beiden Teilchenströme, die in entgegengesetzte Richtungen verlaufen, bis sie nahezu Lichtgeschwindigkeit haben (siehe Video). Verschiedene supraleitende Magnete, die Strom ohne Widerstand und daher besonders gut leiten, sorgen dafür, dass der Strahl in der Bahn und zusammen bleibt. Die Magnete werden auf eine Temperatur von etwa -271°C herunter gekühlt. An jeder Stelle des LHC-Ringes kommen die Teilchen mehr als 11.000-mal pro Sekunde vorbei. In Detektoren, riesigen Messgeräten, werden die Ströme zur Kollision gebracht, sodass sie fast eine Milliarde Mal pro Sekunde aufeinandertreffen. Ein Strahl ist dünner als ein menschliches Haar und hat die Energie eines Zuges, der 300 Kilometer pro Stunde schnell ist. Die auf einen kleinen Raum konzentrierte hohe Energie wandelt sich bei der Kollision in Masse um und erzeugt neue Elementarteilchen. |
Die Arbeitsgruppe um Herten ist an Entwicklung und Bau des Detektors beteiligt und sucht zudem nach so genannten supersymmetrischen Teilchen. Die Freiburger Physikerin Dr. Stephanie Zimmermann erarbeitet als Leiterin des Projekts „ATLAS Muon New Small Wheel“ verbesserte Kammern für ATLAS, die speziell das Elementarteilchen „Myon“ messen. Der ATLAS-Detektor ist schalenförmig um den Kollisionspunkt herum aufgebaut, hat die Form eines Fasses und besteht im Wesentlichen aus drei Lagen. Der Innere Detektor in der Mitte weist geladene Teilchen nach. Die Kalorimeter in der zweiten Schicht bestimmen die Energie von Teilchen. Außen befinden sich Myon-Detektoren. Die verschiedenen Detektorteile registrieren mit unterschiedlicher Genauigkeit, ob ein Elementarteilchen durch sie hindurchfliegt und welche Energie es hat. Mithilfe von Computer-Algorithmen berechnen die Physiker aus den registrierten Messpunkten die Bahn eines Teilchens sowie seiner Zerfallsprodukte bis hin zu ihrem jeweiligen Ursprung zurück.
Myonen sind die einzigen nachweisbaren Teilchen, die es durch alle Lagen bis ins Äußerste des ATLAS-Detektors schaffen. Sie können selbst meterdickes Eisen relativ ungestört durchdringen. Eine große Rolle spielen die Partikel beispielsweise bei dem Nachweis des Higgs-Bosons, das unter anderem in vier Myonen zerfällt. Das Myon-System von ATLAS ist dafür optimiert, diese Zerfallsart präzise und genau zu messen. Zimmermann und weitere Wissenschaftler verbessern Teile des Detektors, um das ATLAS-Experiment für die Zukunft zu rüsten. „Es steht fest, dass der LHC bis etwa 2030 laufen wird. Mit einer Intensität, die circa fünfmal so hoch ist wie ursprünglich vorgesehen“, sagt Zimmermann. „Wir entwickeln die Detektoren weiter und passen sie an, um die gleiche Genauigkeit wie bei den vorherigen Durchgängen sicherstellen zu können.“ In ihrem Projekt geht es um Myon-Kammern, die wie Scheiben aussehen und daher „Small Wheels“ genannt werden. „Klein sind sie allerdings nicht, sie haben einen Durchmesser von neuneinhalb Metern.“ Sie sollen während eines Ausbaus 2018 und 2019 eingebaut werden (siehe Interview mit Zimmermann). Darüber hinaus stammen von Hertens Arbeitsgruppe weitere Myon-Detektoren (siehe Bildergalerie ATLAS).
Die Arbeitsgruppe von Jakobs entwickelt Siliziumstreifendetektoren, die Bestandteile des Inneren Detektor von ATLAS sind. Sie vermessen nahe am Kollisionspunkt die Bahnen aller elektrisch geladenen Teilchen, die entstehen, mit einer hohen Präzision von etwa 15 Mikrometern.
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Das Modul für den zukünftigen Siliziumstreifendetektor in der Nahaufnahme: Es besteht aus einer Ausleseelektronik auf einem Siliziumsensor. Foto: Katrin Albaum |
Ein menschliches Haar ist im Vergleich dazu etwa 30 bis 70 Mikrometer dick. Für die Jahre 2022 und 2023 ist eine weitere Ausbaustufe des ATLAS-Detektors geplant, bei der der Innere Detektor komplett ersetzt wird und neue Siliziumstreifendetektoren eingebaut werden. Bei der Ausbaustufe soll der Teilchenstrahl im Large Hadron Collider (LHC) eine fünffach höhere Luminosität erhalten, das heißt es finden fünfmal so viele Teilchenbegegnungen pro Sekunde und Quadratzentimeter statt. Der ATLAS-Detektor muss dann eine höhere Rate an Teilchen erkennen und mehr Strahlung aushalten. Dies ist vergleichbar damit, wie sich höhere Sonnenstrahlung auf die menschliche Haut auswirkt. Die verbesserten Teile des Inneren Detektors bieten dank neuer Materialien erhöhten Schutz. Der Detektor bekommt gewissermaßen eine stärkere Sonnencreme mit höherem Schutzfaktor.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Jakobs untersuchen zudem unter anderem die Eigenschaften des neu entdeckten Higgs-Bosons. Darüber hinaus suchen Forscher der Gruppe, wie die Doktorandin Francesca Ungaro, nach supersymmetrischen Teilchen. „Supersymmetrie ist eine mögliche Erweiterung des Standardmodells“, erläutert Ungaro. Das Standardmodell ist die physikalische Theorie der Elementarteilchen. Es unterscheidet zwischen Materie- und Kraftteilchen. Fermionen sind die grundlegenden Bausteine, aus denen sich Materie zusammensetzt. Sie interagieren miteinander, indem sie Bosonen austauschen. Bosonen sind als Botenteilchen verantwortlich für Kräfte und Wechselwirkungen; das Photon überträgt beispielsweise die Elektromagnetische Kraft. Das Standardmodell lässt jedoch einige Fragen offen: Es erklärt zum Beispiel nicht den Ursprung der bislang unbekannten Dunklen Materie, die nicht sichtbar ist. Forscher vermuten, dass etwa 26 Prozent des Universums aus ihr bestehen. Die sichtbare Materie macht hingegen weniger als fünf Prozent des Universums aus. Der Rest ist Dunkle Energie.
Supersymmetrie löst einige der Probleme. Ihr zufolge hat jedes Fermion aus dem Standardmodell einen so genannten Superpartner, der ein Boson ist, und jedes Boson hat ein Fermion als Superpartner.
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Der LHC ist 27 Kilometer lang und liegt 50 bis 150 Meter tief in der französischen und schweizerischen Erde. Foto: © 2012 CERN |
Dunkle Materie könnte aus dem leichtesten dieser neuen Teilchen bestehen. Ungaro sucht nach dem supersymmetrischen Boson „Stop“, das der Partner des Fermions „Top-Quark“ aus dem Standardmodell ist. „Dafür analysiere ich große Datenmengen, die bei den Kollisionen entstehen, und suche in ihnen ein Signal, das extrem klein ist.“ Bislang gebe es keine Hinweise für das „Stop“ und die anderen supersymmetrischen Teilchen, aber die nächste Runde der Datennahme bei einer höheren Luminosität kann neue Erkenntnisse bringen (siehe Interview mit Ungaro). Wichtig für die Interpretation der Daten, das heißt für die Analyse der zugrundeliegenden Physikprozesse, ist auch der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Experimentellen und Theoretischen Teilchenphysikern, wie den Freiburger Arbeitsgruppen um Prof. Dr. Jochum Johan van der Bij, Prof. Dr. Stefan Dittmaier und Juniorprofessor Dr. Harald Ita.
Wenn Forscher weitere Higgs-Teilchen finden würden, wäre dies ebenfalls ein Beweis für neue Physik, die über das Standardmodell hinausgeht. Denn Supersymmetrie und viele andere Erweiterungen des Standardmodells sagen voraus, dass es nicht nur ein Higgs-Teilchen gibt. Die Arbeitsgruppe von Schumacher sucht nach zusätzlichen Higgs-Teilchen und erforscht zudem das bereits entdeckte Higgs-Boson genauer. Die Wissenschaftler kennen bereits viele Eigenschaften des Partikels: Sie wissen, dass es neutral ist, also keine elektrische Ladung besitzt, und welche Masse es hat. Viele andere Eigenschaften müssen sie jedoch noch bestimmen.
Dr. Stan Lai aus Schumachers Abteilung untersucht die so genannte „Charge Parity“-Natur, kurz CP-Natur, des Higgs-Partikels. Diese könnte erklären, warum unser Universum so ist, wie es ist – nämlich voller Materie. Als das Universum entstand, gab es in etwa so viel Antimaterie wie Materie, die sich gegenseitig vernichten. Jetzt kommt Antimaterie, die aus Antiteilchen besteht, kaum noch vor. Der CP-Symmetrie zufolge haben die Materieteilchen aus dem Standardmodell und ihre Antiteilchen die gleichen Eigenschaften, nur ihre Ladungen sind entgegengesetzt. „Wir versuchen herauszufinden, ob das Higgs-Boson diese Symmetrieregel verletzt. Dies könnte erklären, warum es in unserem Universum Materie im Überschuss gibt“, sagt Lai.
Lai untersucht in erster Linie eine bestimmte Zerfallsart des Higgs-Bosons, bei der es in zwei Tau-Leptonen zerfällt, also in zwei Fermionen. Bei der Higgs-Entdeckung 2012 wiesen Forscher nach, dass das Elementarteilchen mit Bosonen wechselwirkt. Um zu beweisen, dass es den Bausteinen der Materie ihre Masse gibt, mussten sie auch eine Wechselwirkung mit Fermionen nachweisen, aus denen sich die Materie zusammensetzt. Dies gelang Lai und weiteren Wissenschaftlern 2013: Sie zeigten, dass das Higgs-Teilchen in zwei Tau-Leptonen zerfällt. Es gibt also auch eine Wechselwirkung zwischen dem Higgs und den Bausteinen der Materie. Im Interview erklärt Lai, wie das Higgs-Boson am ATLAS-Detektor überhaupt gemessen wird, warum dies der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen gleicht und wie das Higgs-Feld den anderen Teilchen ihre Masse gibt.
- Riesige Datenmengen
Alleine das ATLAS-Experiment lieferte 2011 etwa 400 bis 500 Megabyte an Daten pro Sekunde.
Foto: © 2012 CERN
Schumachers Gruppe betreibt zudem ein ergänzendes Rechenzentrum für das ATLAS-Experiment am Rechenzentrum der Universität Freiburg, wodurch das CERN Data Centre zusätzlichen Speicherplatz und Rechenkerne erhält. Weltweit gibt es etwa 130 dieser Tier-2-Rechenzentren. Der LHC und seine Experimente erzeugen pro Jahr gigantische Datenmengen: 2012 waren es etwa 25 Petabyte, was circa 25 Millionen Gigabyte oder drei Millionen DVDs entspricht. Alleine das ATLAS-Experiment lieferte 2011 etwa 400 bis 500 Megabyte an Daten pro Sekunde. Und das, obwohl Algorithmen die Daten zuvor in mehreren Stufen reduzieren: Die Computer zeichnen nur Daten auf, aus denen die Wissenschaftler etwas Neues lernen können. Sie unterdrücken rauschende Kanäle und filtern triviale Ereignisse, die schon bekannte Prozesse enthalten, heraus. Die Bildergalerie bietet einen Einblick ins CERN Data Centre. 2015 werden der LHC und die Experimente voraussichtlich etwa 50 Petabyte erzeugen. Vielleicht verstecken sich in diesen Daten die entscheidenden Hinweise, mit denen die Wissenschaftler alle offenen Fragen beantworten entdecken und das nächste Kapitel der Physik aufschlagen können.
Autorin: Katrin Albaum
In ihrem Blog auf http://cernreiseblog.tumblr.com/ berichtet die Autorin Katrin Albaum von ihrem Besuch am CERN in Genf.
Die Druckversion dieses Textes (pdf) finden Sie hier.
Porträts der Forscher
innen und Forscher
Foto: Universität Freiburg |
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![]() Foto: Zimmermann |
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![]() | Francesca Ungaro
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Foto: Arbeitsgruppe Jakobs / Universität Freiburg |
Videos
Die Suche nach supersymmetrischen Teilchen
Interview mit Francesca Ungaro von Katrin Albaum
Die Doktorandin Francesca Ungaro aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Karl Jakobs am Physikalischen Institut der Universität Freiburg berichtet von der Suche nach supersymmetrischen Teilchen. Sie erklärt, was das Standardmodell und Supersymmetrie sind und warum sie sich auf die nächste Phase der Datennahme am Large Hadron Collider in Genf/Schweiz freut.
Aufbau und Funktionsweise des ATLAS-Detektors
Interview mit Dr. Stephanie Zimmermann von Katrin Albaum
Die Freiburger Physikerin Dr. Stephanie Zimmermann aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Gregor Herten erklärt, wie der ATLAS-Detektor am CERN, , dem Europäischen Labor für Elementarteilchenforschung in Genf/Schweiz, funktioniert und was in den Wartungsphasen passiert. Zudem berichtet sie von dem Projekt, das sie leitet und in dem die so genannten Myon-Kammern weiterentwickelt und verbessert werden.
Freiburger Physiker und das Higgs-Teilchen
Interview mit Dr. Stanley Lai von Katrin Albaum
Dr. Stanley Lai aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Markus Schumacher am Physikalischen Institut der Universität Freiburg erklärt und wie das Higgs-Boson am ATLAS-Detektor gemessen wird, warum dies der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen gleicht . Er beschreibt, wie das Higgs-Feld den anderen Teilchen ihre Masse gibt: Ein Forschungsergebnis seiner Gruppe weist darauf hin, dass das Higgs-Boson auch mit so genannten Fermionen wechselwirkt und daher auch mit den Bausteinen der Materie.
Das CERN Rechenzentrum und sein weltweites Netzwerk
© 2013 CERN
Video des CERN Rechenzentrums
Der Large Hadron Collider (LHC) am CERN
© 2011 CERN
Der Large Hadron Collider (LHC) vom CERN, dem Europäischen Labor für Elementarteilchenforschung in Genf/Schweiz, liegt 50 bis 150 Meter tief unter der Erde in einem kreisförmigen Tunnel und hat eine Länge von 27 Kilometern. Die Protonen, die im LHC eingesetzt werden, stammen aus einer Gasflasche mit Wasserstoff am Beginn eines mehrteiligen Beschleunigerkomplexes. Nachdem die Protonen mehrere Vorbeschleuniger durchlaufen haben, leiten Technikerinnen und Techniker aus dem Kontrollzentrum des CERN sie in den LHC. Dieser beschleunigt die beiden Teilchenströme, die in entgegengesetzte Richtungen verlaufen, bis sie nahezu Lichtgeschwindigkeit haben. In Detektoren, riesigen Messgeräten, werden die Ströme zur Kollision gebracht.
Bildergalerie
ATLAS
LHC Tunnel
Rechenzentrum und Kontrollraum