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Sicher fühlen, besser radeln

Der Kognitionswissenschaftler Rul von Stülpnagel erforscht, wie bauliche Strukturen das Verhalten von Fahrradfahrern beeinflussen

Freiburg, 30.09.2020

Kurvig, schmal, dicht befahren? Dr. Rul von Stülpnagel untersucht, wann Menschen Radstrecken als gefährlich empfinden, und welche Wege es tatsächlich sind. Den Freiburger Kognitionswissenschaftler interessiert besonders die Frage: Würden mehr Menschen in die Pedale treten, wenn ihnen die Bauart der Radwege eine hohe Sicherheit vermittelte? Dazu hat von Stülpnagel eine Studie gestartet, Fragebogen ausgewertet und mittels mobilem Eye Tracking analysiert, in welche Richtung Radlerinnen und Radler in unterschiedlichen Situationen blicken. Bis Ende Oktober 2020 können Interessierte an der Umfrage teilnehmen.

Freiburg enttäuscht nicht seinen Ruf als Fahrradstadt: „Allgemein herrschen hier für Radfahrende luxuriöse Umstände“, sagt der Kognitionswissenschaftler Rul von Stülpnagel. Foto: Jürgen Gocke

Uneingeschränkter Rundblick fordert Radler: „Viele empfinden das als unangenehm“, sagt Rul von Stülpnagel vom Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Freiburg. Dieses Ergebnis hat den promovierten Psychologen überrascht. Seit 2015 untersucht er, wie gefährlich oder sicher Radstrecken sind. Wann stimmt das subjektive Gefühl von Radlern mit objektiven Unfallzahlen überein? Speziell interessiert von Stülpnagel, welchen Einfluss dabei Hauswände, Straßenbahnhaltestellen und andere Baustrukturen haben, die die Sicht einschränken. „Anfangs habe ich gedacht, dass sich Radfahrende umso sicherer fühlen, je freier ihr Sichtfeld ist.“ Dann aber hat der Forscher den Radlern besondere Brillen aufgesetzt. Darin sind mehrere kleine Kameras integriert, die das Sichtfeld und die Augenbewegungen aufzeichnen. Am Ende errechnet ein Computer, ob und wie lange die Radler nach rechts, links oder geradeaus geschaut haben. „Mobile Eye Tracking“ heißt diese Technik.

Ein Test mit 18 Personen hat gezeigt: Mit der Übersicht wächst die Furcht, etwas Wichtiges zu übersehen. „Wenn das Sichtfeld zu offen ist, muss ich mich um viele Richtungen kümmern“, erklärt der Forscher. Im Stadtverkehr drohen allseits Gefahren. Darum beruhigen etwa Hauswände, die eine Blickrichtung verstellen: „Hier kann ich mich auf die andere Seite fokussieren.“ Je mehr Hindernisse die Sicht einschränken, desto weniger weit noch vorne richtet sich der Blick. Zum Ausgleich fahren Radler langsamer, zumindest die meisten. Von Stülpnagel hat seine Testpersonen vorher gefragt, wie gut sie mit der betreffenden Stelle vertraut sind und wie sie ihre Fahrkünste einschätzen: „Wer sich für mehr erfahren hält, fühlt sich sicherer und fährt schneller.“

Konflikte zwischen Radelnden und Motorisierten

Andererseits darf ein eingeschränktes Sichtfeld Radfahrerinnen und Radfahrern auch nicht den Eindruck von Enge vermitteln, sagt von Stülpnagel: „Die Breite ist bei Radwegen, besonders bei Fahrradstreifen, subjektiv extrem wichtig für das Sicherheitsgefühl.“ Das haben Daten aus einem Projekt bestätigt, bei dem mehr als 15.000 Berlinerinnen und Berliner auf Fotos die Gefährlichkeit von Radwegen einstuften. „Farbige Markierungen sind gut, aber verstärken das Sicherheitsgefühl nicht zusätzlich, wenn Radwege breit genug sind“, sagt von Stülpnagel. Die meisten sind in Städten jedoch schmaler als offiziell empfohlen.

Halten solche subjektiv unsicheren Strecken Menschen vom umweltfreundlichen Radfahren ab? Würden mehr radeln, wenn ihnen die Baustrukturen ein sicheres Gefühl vermittelten? „Bei mir steht im Vordergrund, wie bauliche Strukturen menschliches Verhalten beeinflussen“, so der Forscher. Seine Projekte konzentrieren sich auf bauliche Hintergründe von Konflikten zwischen Radelnden und Motorisierten. Nebenbei könnte seine Arbeit aber bauliche Sünden aufdecken, die bestimmte Stellen objektiv gefährlich machen. Dann ließe sich auch die reelle Sicherheit erhöhen.

Unterbrechungen sind kritisch

Die Zahlen über die objektive Gefahr stammen aus der Unfallstatistik: „Die Freiburger Polizei war sehr hilfreich. Sie hat mir auch anonymisierte Angaben zu Alter und Geschlecht der Unfallbeteiligten geliefert“, berichtet von Stülpnagel. Das lokale subjektive Sicherheitsgefühl hat er einer Befragung des Verkehrsforums Freiburg entnommen. Diese Erhebung ist beendet. Bis Ende Oktober 2020 haben Interessierte aber die Gelegenheit, einen Fragebogen auszufüllen, den von Stülpnagel entworfen hat.

„Überwiegend schätzen Radfahrende die Gefährlichkeit richtig ein“, resümiert der Forscher, der die subjektiven Eindrücke mit der objektiven Sachlage vergleicht. Real und gefühlt sicherer sind Radwege, die durch Bauelemente wie Bordsteine oder Kanten von der Fahrbahn für Autos abgetrennt sind. Aufgezeichnete Trennlinien seien aber besser als nichts. Als statistisch und emotional kritisch erweisen sich Unterbrechungen von Radwegen: „Wie beispielsweise in Freiburg am Übergang von der Habsburger- in die Zähringerstraße, wo stadtauswärts Radelnde an der Bahnbrücke auf die Fahrbahn müssen.“ Viele Unfälle passieren auch rund um Straßenbahnhaltestellen – wo sich Radelnde jedoch nicht übermäßig bedroht wähnen. Weder diese Fehleinschätzung noch die Unfallhäufigkeit kann sich von Stülpnagel befriedigend erklären: „Da werde ich weiter forschen.“

Er betont, dass nicht alle seiner Ergebnisse für ganz Deutschland gelten. Nicht auf allen Strecken sind zum Beispiel gleich viele Radler unterwegs. Auch die Wichtigkeit von Gefahrenstellen kann verzerrt sein, wenn Daten zum Radverkehrsvolumen fehlen. Für München waren sie verfügbar. „So haben wir entdeckt, dass Tempo-30-Zonen wahrscheinlich nicht so ungefährlich sind, wie allgemein angenommen“, sagt er. Die niedrige Anzahl der Unfälle könne trügen, weil in den Zonen oft weniger Fahrräder verkehren als außerhalb.

Luxuriöse Umstände in Freiburg

Verkehr ist verzwickt, die Gefühlslage von Radfahrern nicht minder. Die meisten Mittel fließen in Projekte zum Kraftfahrzeugverkehr, sagt Rul von Stülpnagel, aber die Situation bessere sich. 2020 hat der Forscher einige Fachartikel zu diesem Thema publiziert oder zur Veröffentlichung eingereicht. Nun hat er vor, die Beschwerden von Radlern inhaltlich genauer auszuwerten, möglichst automatisch oder halbautomatisch mit Text Mining. Auch seine Online-Umfrage soll dabei helfen, subjektive Eindrücke der Gefährdung besser zu verstehen. Um Testpersonen nicht zu gefährden, will er zudem Abfolgen komplexer Verkehrssituationen virtuell nachbauen. Für Freiburg hat er überdies festgestellt: „Allgemein herrschen hier für Radfahrende luxuriöse Umstände. Aber Luft nach oben ist selbstverständlich immer.“

Jürgen Schickinger

 

 

 

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